Nur teilweise gelungen: „Der Vorleser“ von Stephen Daldrey ***


Berlin 1995: Der Anwalt Michael Berg erinnert sich an seine Jugend in einer westdeutschen Kleinstadt. Als 15-jaehriger Schueler hat er sich 1958 in die Strassenbahn-Schaffnerin Hanna Schmitz verliebt, einer verschlossenen, 20 Jahre aelteren Frau. Das Besondere dieser Beziehung: vor dem Sex muss Michael ihr aus literarischen Werken vorlesen. Nach ein paar Wochen verschwindet Hanna spurlos. Acht Jahre spaeter ist Michael Jura-Student und besucht 1966 mit seinem Seminar einen der Auschwitz-Prozesse. Dort entdeckt er Hanna als Angeklagte, sie war Waerterin in einem KZ und wird zu lebenslaenglicher Strafe verurteilt. Michael erkennt bei der Verhandlung, dass Hanna Analphabetin ist. Zwar nimmt er keinen Kontakt zu ihr auf, schickt ihr aber von ihm gelesene Litaratur als Ton-Kassetten ins Gefaengnis. Dort lernt sie muehsam lesen und schreiben, vor ihrer Entlassung (nach 20 Jahren) erhaengt sie sich in der Zelle. Michael kommt mit seinem Konflik, ob die Liebe zu Hanna ihn schuldig macht, kaum klar. Am Ende des Film beginnt er seiner erwachsenen Tochter seine Geschichte zu erzaehlen.
In Bernhard Schlinks 1995 erschienenem Roman ist Michael der Ich-Erzaehler, der neben seiner aeusseren Lebens-Geschichte viel ueber die Fragen von Schuld und Suehne, von Politik, Gesetz, Recht und Moral reflektiert. Diese Gedanken und die Auseinandersetztung der Nachgeborenen mit ihrer Elterngeneration ueber den Holocaust bilden den Kern des Romans. Doch in Stephen Daldreys Verfilmung spielt diese Meta-Ebene nur am Rande eine Rolle.  Daltrey und sein Autor David Hare konzentrieren sich auf die Liebesgeschichte und deren Auswirkung auf das persoenliche Leben der Haupt-Personen. Die rechtlichen und politischen Fragen des Romans fallen fast weg oder konzentrieren sich auf etwas papierene Szenen wie die Seminar-Dialoge zwischen dem Rechts-Professor und seinen Studenten. Entsprechend dieser Dramaturgie, die fast ausschliesselich die individuellen Schicksale Hannas und Michaels betont, liegt das Gewicht des Films vor allem auf den Darstellern. Und hierin beruht auch die Staerke des Films. Kate Winslet zeigt Hanna als etwas geheimnisvolle Frau zwischen Haerte und Zaertlichkeit, Unsicherheit, Angst und falscher Scham. Sie vermeidet jede Heroisierung dieser Figur, bewahrt sie aber auch vor Sentimentalitaet. David Kross ueberzeugt vor allem als junger Schueler und unerfahrener Liebhaber,  als dauer-rauchender Student bleibt er blasser. Ralph Finnies als erwachsener Michael betont vor allem dessen melancholischen Charakter und seine Unfaehigkeit, sich seiner Umgebung zu oeffnen: ein traumatisch an seiner Liebe zu Hanna leidender Mann,  daran dass sie eben kein KZ-Monster war. Viele gute deutsche und englische Darsteller runden ein ueberzeugendes Ensemble ab (Bruno Ganz, Burkhard Klausner, Lena Olin). Daltreys „Vorleser“ beweist durchaus grosse handwerkliche, am Hollywood-Standart zu messende Qualitaeten, als eigenstaendige oder gar eigenwillige Verfilmung eines Welt-Bestsellers bleibt sie der moralisch engagierten Vorlage jedoch einiges schuldig.

Foto/Verleih: Senator

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