Irritierend: „Antichrist“ von Lars von Trier ***

Prolog: ein (namenloses) Ehepaar mittleren Alters beim Sex. Gleichzeitig krabbelt der kleine Sohn Nic aus Bett und Laufgitter auf eine offene Fensterbank, stuerzt in den Tod. Gefilmt in Zeitlupe und Schwarz-Weiss, unterlegt mit Haendels populaerer Trauer-Arie „Lascia ch’io pianga“. Schoene Bilder wie aus einem Werbefilm, dazu rieselt leise der Schnee.
Dann das in mehrere Kapitel unterteilte – jetzt farbig gedrehte – Hauptgeschehen: die extreme Trauer der sich schuldig fuehlenden Mutter (Charlotte Gainsbourg) und die rationalen Versuche ihres Mannes (William Dafoe), eines Therapeuten, ihr aus der tiefen Verzweiflung zu helfen. Dazu sucht das Paar eine im Wald abgelegene, einsame Huette mit dem seltsamen Namen „Eden“ auf,  in der einen Sommer zuvor die Frau mit ihrem kleinen Kind zurueckgezogen an ihrer Promotionsarbeit ueber Hexenverfolgung arbeitete. Doch alle therapeuthischen Versuche helfen nichts. In einem hysterischen Gewaltausbruch zertruemmert die Frau die Hoden ihres Mannes, schraubt einen Muehlstein an sein Bein und verletzt mit einer Schere ihr eigenes Geschlechtsteil. Am Ende erwuergt er sie und verbrennt ihre Leiche.
In einem kurzen, wieder von der Haendel-Arie unterlegten Epilog verlaesst der Mann den Ort des Geschehens, stumm beobachtet er den Wald und drei Tiere, die schon zuvor eine etwas raetselhafte Rolle spielten: ein Reh, das ein Kiez gebar, ein Fuchs, der – der menschlichen Sprache maechtig – das Chaos verkuendete, und ein Rabe, der sich trotz mehrerer Versuche nicht umbringen lies.
Eine seltsame Mischung aus Maerchen, Strindberg-Drama und Horror-Film. Gezielte Provokationen durch realistische Sex- und Gewalt-Szenen, deren filmische Tricksereien aber gleichzeitig durchschaubar sind und so auch keine Tabu-Brueche mehr darstellen. Seltsame Mythologien und verquere Ideologien: ist die Frau das Boese, die Natur der Satan? Vieles bleibt raetselhaft und nicht durchschaubar: welche Haltung nimmt der Regisseur ein  – ist er misogyn, frauen- oder lustfeindlich ?, oder fuehrt er die Zuschauer mit intelligenter List auf falsche Faehrten?
Ueberfrachtetes Psycho-Drama oder „offenes“ Kunstwerk ? Lars von Trier zeigt in diesem hervorragend fotografierten Film (Kamera: Anthony Dod Mantle) wie schon oft ungewoehnliche Ideen und Bilder, animiert seine beiden Darsteller zu auserordentlich-extremen Leistungen, spielt geschickt auf Filme von Dreyer, Bergmann, Tarkowski oder sich selbst an.
Doch er bekommt diesmal die Balance nicht in Griff,  vermag all seine unkonventionellen Vorstellungen und seine oft grandiosen Einfaelle nicht zu buendeln, und ein in sich stimmiges Ganzes daraus zu formen. Der Film zerfaellt in seine einzelnen Teile, vielfach beeindruckende Sequenzen, bleibt aber – vor allem auch emotional – ohne einigende Mitte, ohne ideeles Zentrum.
Deshalb ein weites Feld fuer Interpretationen – von absurd bis genial. Ob das die versteckte Absicht des Regisseurs war ?

Foto/Verleih: MFA (24 Bilder)

zu sehen:Hackesche Hoefe OmU; CinemaxX Potsdamer Platz; Kino in der Kulturbrauerei; Movimento; Neue Kant Kinos u.a.