Auf hohem Kothurn: “ Ödipus auf Kolonos“ im Berliner Ensemble****

Das sehr selten aufgeführte Stück von Sophokles (enstanden um 407/406 v.Ch.) berichtet von Exil und Tod des aus seiner Heimat Theben verbannten Ödipus. Blind und krank, geleitet von seiner Tochter Antigone, erreicht er den heiligen Hain in Kolonos bei Athen. Dort – so das Orakel – erwarte ihn ein sanfter Tod.  In vielfach heftigen, verbalen Auseinandersetzungen mit dem Chor der einheimischen, alten Männer und mit dem ihn beschützenden Athener König Theseus verteidigt Ödipus noch einmal seine Schuld als ungewollt. Aber: er unterwirft sich gleichzeitig dem von den Göttern verhängten Schicksal – und wird deshalb mit einen sanften Tod belohnt.
Regisseur Peter Stein gelingt es, aus der antiken Tragödie eine auch heute noch aktuell wirkende Parabel auf Schuld, erduldetes Leid und Tod, aber auch auf ein vielschichtiges Spiel um Macht, Staat und individuelle Würde zu gestalten. Die fast leere, aber raffiniert ausgeleuchtete Bühne zeigt in ihrer Mitte einen dichten, hellen Wald – von einer niedigen (Sitz-)Mauer umgeben. Ein (exzellent artikulierender) Chor alter Männer in moderner, ländlicher Kleider umkreist Ödipus in wuchtig-choreographierter Formation. Kreon, der heuchlerische Schwager, fährt -  flammend rot gewandet -  im Rollstuhl herein, der kriegerisch-brutale Sohn Polyneikes – in schwarzem Leder – versucht vergeblich den Segen des Vaters für einen (tödlichen) Kampf gegen den Bruder zu erlangen. Ödipus findet in all diesen Gesprächen und Auseinandersetzungen immer mehr zu sich selbst, zum einem inneren Gleichgewicht  und verschwindet in ruhiger Gelassenheit im Hain, während ein gewaltiges Gewitter und ein den Hintergrund jäh erleuchtender (Atom-)Blitz seinen Tod verkünden. Die klagenden Töchter kehren daraufhin nach Theben zurück, um den dortigen Bruderkampf – wenn möglich – noch zu verhindern.
Peter Steins kluge und dichte Regie verknüft überzeugend griechisches Pathos mit heutiger Psychologie, verbindet wirkungsvoll realistische mit abstahierenden Theaterformen – und vermag vor allem die dichterische Sprache zum Leuchten zu bringen (in einer eigenen modernen, klaren deutschen Übertragung).
Klaus Maria Brandauer ist Ödipus: ein vitaler Greis, verzweifelt, wütend, schmerz-gepeinigt, aber auch väterlich und hoffnungsvoll, am Ende ergeben und das Schicksal bewusst ertragend. Eine grosse, beeindruckende Leistung, die in Jürgen Holtz‘ schlau-hinterfotzigem Kreon einen ebenbürtigen Gegner findet. Die meisten der jüngeren Darsteller vermögen dieses schauspielerische Niveau nicht ganz zu erreichen, bei ihnen verschmelzen die einstudierten sprachlichen und darstellerischen Gesten (noch) nicht zu einer lebendigen Einheit.
Sophokles und Stein : ein grosser Abend im BE – wenn auch die enorme Faszination, mit der die antiken Dramen an der alten Schaubühne einst die Theaterwelt erregte, sich heute nicht mehr einzustellen vermag.

Foto:Monika Rittershaus/Berliner Ensemble