Flüchtige Begegnungen: ‚Orly‘ von Angela Schanelec ****

Ein Vormittag auf dem Flughafen Orly im Süden von Paris. Menschenmassen laufen durch die gläsernen Hallen, checken ein, essen, kaufen ein in den diversen Shops, warten. Die Kamera gleitet neugierig über Passagiere, Service- oder Flugpersonal, schält einzelne Passanten in ruhig-gleitenden Kamera- Zoom’s  heraus. Vier kurze Geschichten lässt die Regisseurin Angela Schanelec dabei knapp oder bruchstückhaft andeuten.
Eine junge Frau kommt ins Gespräch mit einem auf der Bank neben ihr sitzenden, attraktiven Mann: sie hat ihre Mutter in Paris besucht und fliegt jetzt nach Montreal zu ihrem Mann zurück, er ist französicher Geschäftsmann in San Francisco, will aber wieder in seine Heimatstadt Paris (wo auch sein Sohn aufwächst) zurück.
Eine leicht verschnupfte Mutter mit halbwüchsichem Sohn fliegt zur Beerdigung ihres geschiedenen Mannes nach Marseille. Beim Warten auf den Abflug erzählt sie dem Sohn von einem lange zurückliegenden Seitensprung.
Ein junges deutsches Rucksack-Paar wartet eher stumm, er studiert die Passanten, sie liest in einem Buch. Einmal ergibt sich ein kurzes, freundliches Gespäch mit der daneben sitzenden arabischen Frau mit kleinem Baby.
Alle diese angedeuteten Geschichten erzählt die Regisseurin in langen, ruhigen Einstellungen, sanft rhythmisiert geschnitten. Sie hat ihre Schauspieler unter die normalen Besucher des Flughafen postiert und von weitem mit dem Teleobjektiv gefilmt, so dass der Zuschauer zunächst nicht zwischen den Darstellern und den zufällig vorbeilaufenden, normalen Menschen unterscheiden kann.
Eine einzige Geschichte spielt ausserhalb des Flughafens , bildet gleichsam den dramaturgischen Rahmen. Eine Frau namens Sabine fährt zu Beginn des Films mit dem Taxi durch Paris nach Orly; sie hat sich soeben von ihrem Mann Theo getrennt, der am Handy vergeblich versucht, sie umzustimmen. Erst im Flughafengebäude liest sie – in der Anonymität der wartenden Masse – seinen (poetisch) bewegenden Abschiedsbrief. Plötzlich eine Lautsprecherdurchsage: der Flugbetrieb wird eingestellt, alle Personen müssen die Terminals verlassen, Sabine – und wahrscheinlich alle anderen auch – kehren nach Paris zurück.

Ein leiser, kunstvoll komponierter Film. Eine ruhige Abfolge schöner Bilder (Kamera: Reinhold Vorschneider), die zugleich die Fantasie und Geduld des Zuschauer fordern, sich auf fremde Gesichter, Blicke und Geschichten einzulassen und eventuell diese selbst fortzuspinnen, weiterzudenken. Ästhetisch elegantes,  gedanklich anregendes Kino.
Poster / Verleih: Piffl Medien GmbH

zu sehen: fsk (OmU), Hackesche Höfe (OmU), Kant-Kino