Ein ganz gewöhnliches Leben: ‚Another Year‘ von Mike Leigh*****

Tom und Gerri (Jim Broadbent und Ruth Sheen) sind ein älteres Ehepaar, kurz vor der Rente. Sie wohnen in einem hübschen Reihenhaus in einem Londoner Vorort, er arbeitet als Geologe, der die Bodenfestigkeit für Neubauten prüft, sie ist Psychotherapeutin im örtlichen Krankenhaus. Sie sind ein zufriedenes, glückliches Paar;  aus dem langen Zusammensein hat sich eine heitere Vertrautheit entwickelt. Sie bilden den ruhigen Kern eines kleinen Freundes- und Bekanntenkreises, der sich im Laufe der Jahreszeiten immer wieder einmal trifft: zum heiteren Sommerfest im Garten oder zu einer traurigen Beerdigung an einem kalt-grauen Wintertag. Doch im Gegensatz zu Tom und Gerri (sic!) haben ihre Freunde Probleme mit sich und dem Leben. Die Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville), eine Mittfünfzigerin, sucht vergeblich einen Partner, sie vermisst einen Menschen, mit dem sie reden kann – und während sie darüber unaufhörlich plappert, schüttet sie ein Glas Weiss-Wein nach dem anderen in sich hinein. Tom’s Freund Ken (Peter Wight)  ist ebenfalls allein, er will deshalb nicht in Rente gehen, trinkt und isst, was das Zeug hält, trotz gesundheitlicher Probleme, und im Pub fühlt er sich unwohl wegen der vielen jungen Leute, deren Welt nicht mehr die seine ist. Auch Sohn Joe (Oliver Maltman), der regelmässig zu Besuch kommt, ist schon dreissig und noch ein etwas dröger Einzelgänger, bis er im Verlauf des Sommers eine Freundin findet, die lebenslustige Katie (Karina Fernandez),  die er dann im Herbst den Eltern vorstellt. Tom’s Bruder Ronnie (David Bradley),  dessen Frau Linda stirbt, droht innerlich zu erstarren, sein Sohn Carl (Martin Savage) hat ihn im Unfrieden längst verlassen und taucht bei der Beerdigung und dem anschliessenden Familien-Treffen nur kurz auf – barsch, unhöflich und dem Vater und den Verwandten harsche Vorwürfe an den Kopf  werfend.
Regisseur Mike Leight („Happy-Go-Lucky“ / „Vera Drake“)  zeigt den ganz gewöhnlichen Alltag von Menschen der britischen Mittelschicht. Es geschieht nichts Ungewöhnliches – ausser der Banalität des normalen Lebens. Es sind Probleme des Älterwerdens, der menschlichen Vereinzelung, aber auch der freundschaftlichen Zuwendung, der Wärme und des gegenseitigen Vertrauens – geschildert ohne jede Sentmentalität oder herablassende (Vor-)Verurteilung. Die Kamera beobachtet minutenlang die Gesichter der handelnden Personen, zeigt ihr stummes Minenspiel, ihr Reagieren auf einen Partner oder Freund, mal spiegelt der Ausdruck der Augen oder des Mundes die gesprochenen Worte, manchmal konterkariert er sie und verrät dabei, was die Personen in ihrem Inneren wirklich bewegt.
Die (allesamt vorzüglichen) Schauspieler improvisieren ihre Dialoge und vermeiden dadurch den üblichen ‚geschriebenen‘ Sprachduktus, der auf Pointen zielt. So gewinnt auch der immer wieder hervorblitzende, britische Humor einen herben, alltäglichen, mal platten, oft bitteren Witz.
Die vier Jahreszeiten bilden den eleganten dramaturgischen wie optisch-effektvollen Rahmen
für diese alltäglichen Ereignisse. Tom und Gerri besitzen einen kleinen Schrebergarten, den sie liebevoll gemeinsam pflegen: Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Doch dieses normale Leben wird nicht (nur) allgemein-menschlich gesehen, sondern ganz real  im britischen Alltag, speziell im Umkreis von London verankert, in einer multikulturellen Gesellschaft, deren einstige Geschlossenheit und deren alt-überlieferte Normen sich langsam aufzulösen scheinen. Spuren dieses Wandels durchsetzen meist unauffällig den gesamten Film , werden bemerkbar in kleinen Handlungen oder Verhaltensweisen von Personen.
Zu Beginn des Films spricht Gerri in ihrer Praxis mit einer älteren, an Schlaflosigkeit leidenden Frau (Imelda Staunton), die aber nichts von ihrem offensichtlichen Leiden preiszugeben bereit ist. Was sie sich ausser Schlaftabletten wünsche, fragt Gerri. „Another Life“ antwortet knapp die verschlossene Frau und verschwindet. Auch aus dem Film.

Foto/Verleih: Prokino Filmverleih

zu sehen: Odeo (OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Capitol; Cinema Paris; CinemaxX Potsdamer Platz; Filmtheater am Friedrichshain; Kino in der Kulturbrauerei; Yorck