Mein Berlinale-Tagebuch 2011

TRUE GRIT  (Wettbewerb – ausser Konkurrenz)****
US-Western von Ethan und Joel Cohen. Mit viel Witz und einer kräftigen Portion Ironie haben die beiden berühmten Regie-Brüder den alten Western von Henry Hathaway (1969 mit John Wayne) neu verfilmt. Wie eine 14-jährige Göre einen abgehalfterten Marshall dingt, um den Mord an ihrem Vaters zu rächen. Mit ihm und einem dazustossenden Ranger aus Texas, der ebenfalls hinter dem Mörder her ist, ziehen sie durch winterliche-einsame Savannen und Berge, stossen schliesslich auf den Gesuchten und ein paar weitere Banditen und erlegen in einem ebenso komischen wie glanzvollen Show-Down sämtliche Ganoven. Allerdings nicht ohne eigene Blessuren davonzutragen.
Mischung aus klassischem Western-Kino und gleichzeitiger Persiflierung des Genres. Brillant-witzige Dialoge, grossartige Schauspieler: Jeff Bridges als abgewrackter, sarkastischer Marsall, Matt Damon in der Rolle des leicht dämlichen Texas-Rangers und die Neuentdeckung Hailee Steinfeld als jugendlich-schlagfertige Initiatorin des kuriosen Rachefeldzuges. Eindrucksvolle Landschafts-Panoramen und geschickt aufpolierte Country-Music runden „True Grit“ zum ’scheidig‘-komödiantischen Unterhaltungs-Kino – zeigen wie intelligente Regisseure, aufbauend auf den bewährten Traditionen,  Hollywood zu frischem Glanz verhelfen.
(Der Film läuft ab 24.Februar in den deutschen Kinos)

THE FORGIVENESS OF BLOOD (Wettbewerb) ****
Ein armes Dorf in der Bergen von Albanien. Trotz des EU-Beitritts herrscht hier noch das Gesetz der Blutrache. Die alten Männer halten an diesem Ritual eissern fest. Zwischen zwei Clans kommt es wgen eines Grundstückes zum Streit, ein Mann wird dabei getötet. Der Täter, Oberhaupt und  Vater einer kleinen Famile mit vier Kindern muss sich vor dem verfolgenden Clan und vor der Polzizei verstecken, die beiden Söhne dürfen das Haus nicht mehr verlassen, auf Wochen, auf Monate,  sonst droht ihnen tödliche Rache. Nur die Frauen werden – entsprechend dem Ritual -  verschont und müssen nun für den täglichen Unterhalt sorgen: tragen Brot aus, verkaufen Zigaretten. Nick der ältere der beiden Söhne, 17 Jahre, der nach seinem Schulabschluss einen Internetshop eröffnen möchte und der in hübsches Mädchen aus der Klasse verliebt ist,  leidet unter dem unfreiwilligen Eingesperrtsein, begehrt allmälich gegen den immer wieder zu nächtlichen Besuchen erscheinenden Vater als Verkörperung der alten (Un-)Sitte auf – ihm will das Blutrachegesetz und das starre Festhalten der Alten daran  nicht mehr einleuchten.  Am Schluss flieht er aus dem heimischen Gefängniss.
Mit fast dokumentarischer Genauigkeit schildert der amerikanische Regisseur Joshua Marston diese fast unglaubliche Geschichte, verfolgt die kargen Gesten und Worte der Personen, zeigt die verwitterten und verbitterten Gesichter der Alten, die der stumm leidenden Frauen und beobachtet mit sensibler Genauigkeit den langsam innerlich hochkochenden Widerstand des jungen Nick (hervorragend: Tristan Halilaj), der mit diesen falschen Traditionen nichts mehr zu tun haben will. Ob sein Ausbruch in eine andere Welt, in die des modernen, jungen Albanien gelingt, bleibt offen. Ein eindringlicher Film, ohne Pathos, aber mit viel Empathie für die junge Generation dieses armen, europäischen Landes.

MARGIN CALL (Wettbewerb) ****
Thrillerähnlich gefilmtes Drama in einer New Yorker Investment Bank, kurz vor der Finanzkrise 2008. Ein junger Risiko-Analyst entdeckt, dass die Bank sich verspekuliert hat und überwiegend auf wertlosen Papieren sitzt. Nächtliche Krisen-Sitzung des Aufsichtsrates und der leitenden Angestellten, Beschluss des Vorstands-Vorsitzenden, am nächsten Morgen alle Papiere loszuwerden, auch unter Inkaufnahme von Verlusten und grösstem Image-Schaden. Danach rollen einige Aufsichtsrats-Köpfe und ein Grossteil der Angestellten wird entlassen. Die ‚überlebenden‘ Manager versuchen einen Neuanfang.
Keine kritische Abrechnung mit dem amerikanischen Wirtschafts- und Finanzsystem, sondern ein Kammerspiel um die Besitzer und Angestellten der Bank – raffiniert gefilmt (Regie: der Newcomer JC Chandor) und hervorragend gespielt (u.a. Kevin Spacey, Jeremy Irons, Demi Moore).  Intelligentes, aktuelles Kino, wenn auch ein bisschen glatt und gelegentlich die bekannten Klischees streifend.
(„Margin Call“ ist ein Fachbegriff aus der Börsenwelt: Aufforderung an Kunden, Geld nachzuschiessen, wenn eine Bank in Schwierigkeiten gerät).

PINA (Wettbewerb – ausser Konkurrenz) ****
Dokumentarfilm von Wim Wenders über Pina Bausch und ihr Wuppertaler Tanz-Theater.
Ursprünglich plante er den Film zusammen mit Pina Bausch,  die Vorarbeiten und ersten Proben liefen bereits,  doch ihr unerwarteter Tod im Juni 2009 verhinderte alles Weitere. Die Tänzer ermunterten Wenders, doch noch weiterzumachen, einen Film über Pina zu gestalten  – er wurde zur Hommage für die grosse Choreographin und ihr Ensemble. Kurze Statements der einzelnen Tänzer über ihr Arbeits- oder ihr persönliches Verhältnis zu Pina wechseln mit längeren Ausschnitten aus vier – noch von Pina selbst ausgewählten – Tanzstücken (Sacre du printemps, Cafe Müller, Kontakthof, Vollmond) sowie einigen wenigen, älteren Aufnahmen oder Interview-Schnipsel von ihr selbst. Hinzu kommen knappe Tanz-Szenen der einzelnen Tänzer in Freien: in Parks, Abraumhalden oder in und unter der Wuppertaler Schwebebahn;  am Schluss tanzen alle hintereinander als bunte Reihe den Rand eines steilen Kraters entlang.
Die Aussagen der Tänzer zeigen ganz klar , dass es sich bei diesem Ensemble um eine stark miteinander verklammerte Künstler-Familie mit Pina als dem dominierenden Oberhaupt handelte, wobei viel Persönliches im Spiel war – die Choreographin in der Doppelrolle als Künstlerin und  menschliche Bezugsperson einer auf sie eingeschworenen Gruppe. Nur so konnten die grossen, oft sehr eigenwilligen Tanzstücke erarbeitet und im Repertoire gehalten werden. Durch die Konzentration auf die vier erwähnten Stück lassen sich Stil und Besonderheiten der choreographischen Arbeit Pina Bausch’s sehr schön erkennen – zumal diese Dokumentationen dieser weltweit erfolgreichen Arbeiten etwa zwei Drittel des knapp zwei-stündigen Films ausmachen.
Regisseur Wim Wenders hat diese Dokumentation, elegant gefilmt und geschnitten, im aktuellen 3- D-Verfahren gedreht. Die Wirkung allerdings scheint mir überschätzt, sie bringt – der landläufigen Meinung zum Trotz – keinen künstlerische oder choreographischen Mehrwert.
Sehenwert vor allem für Tanz-Interessierte.
(Der Film läuft seit dem 24.Februar in den Kinos)

WER WENN NICHT WIR (Wettbewerb) ***
Erster Spielfilm des renommierten Dokumentar-Regisseurs Andres Veiel. Ein Bio-Pic über Bernward Vesper ( ‚Die Reise‘), den Sohn des Nazi-Schrifstellers Will Vesper. Seine Zerissenheit zwischen Vaterliebe und Vaterhass. Seine Liebe zu Gudrun Ensslin und ihr von erotischen und politischen Spannungen geprägtes Zusammenleben. Chronologisch werden die Ereignisse bis zu seinem Tod in knappen Szenen nachgespielt, verblendet mit  Dokumentaraufnahmen aus der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Eher brav und solide gebastelt, mit ziemlich papiernen Dialogen. Aber überzeugend gespielt: besonders von August Diehl in der Titelrolle, Lena Lauzemis als Gudrun Ensslin und vielen prominenten Darstellern in den Nebenrollen (Thomas Thieme, Immogen Kogge, Susanne Lothar u.a.).
Eher für’s Fernsehn als für die Kino-Leinwand geeignet.

MEIN BESTER FEIND (Wettbewerb – ausser Konkurrenz) ***
 ’Schwarze Komödie‘ um einen jüdischen Kunsthändler im Wien der Nazi-Zeit. Es geht um eine Zeichnung von Michelangelo, die der Führer gross-spurig an Mussolini zurückgeben will. Doch der schlaue Kunsthändler hat vorsichtshalber, Kopien der Blattes anfertigen lassen und so jagen der Sohn des Kunsthändlers und sein opportunistischer, zu den Nazis übergelaufener Freund  durch Wiener Galerien, polnische Konzentrationslager und das im Bombenhagel untergehende Berlin nach dem Millionenschatz, wobei der Kleider- und Idenditäts-Tausch eine komisch- entscheidende Rolle spielt. Der Irrwitz der Situation leidet unter der politischen Korrektheit mit der Regisseur Wolfgang Murnberger das turbulent-komödiantische Geschehen in Szene setzt.  Moritz Bleibtreu brilliert zwar als jüdisch-cleverer Kunsthändlers-Sohn zwischen allen Fronten, doch vermag auch er die fehlende bissige-böse Schärfe nicht wettzumachen.


BIZIM BÜYÜK CARESIZLIGIMIZ
(Wettbewerb) ***
Zwei nicht ganz tau-frische Männer: der eine ist Übersetzer, der andere ein braver Angestellter – beide leben seit vielen Jahren in einer gross-zügigen, modernen Wohnung mit fantastischem Ausblick auf Ankara zusammen. Gemeinsames Kochen ist ihre Leidenschaft. Grosszügig gewähren sie der jungen Schwester eines Freundes für einige Zeit Unterkunft (deren Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen) – und verlieben sich beide in das hübsche Mädchen.
Eine türkische ‚Menage-a-trois‘ – aber ohne Sex.  Gefällige Unterhaltung, deren besonderer Reiz in der fein-nuancierten Darstellung der beiden unterschiedlichen Männer liegt  und in den prächtigen Panoramabildern von Ankara und seiner Umgebung, sei’s im Sommer, sei’s im Winter.

THE FUTURE (Wettbewerb) ***
Eigentlich müsste hinter dem Titel ein Fragezeichen stehen, denn Sophie (Miranda July) und Jason (Hamish Linklater) sind ein Paar um die Mitte Dreissig, das sich überlegt, wie ihr Leben weitergehen soll, was es ihnen noch bieten kann. Er ist Compter-Doktor, der per Telefon berät, sie unterrichtet kleine Kinder in einer Ballettschule.  Sie wohnen in einer bescheidenen, aber hübschen Wohnung in Los Angeles und leben sorglos in den Tag hinein. Doch jetzt haben sie eine  – im Film auch sprechende -  Katze adoptiert;  allerdings hat die sich ein Bein gebrochen und muss in der Tierklinik behandelt werden  – 30 Tage lang. Es sind – so Sophie und Jason – ihre letzen ‚freien‘ Tage und das gilt es, effektiv auszunützen. Kurzentschlossen hängen sie den Job an den Nagel und schauen sich neugierig in der Nachbarschaft um: Jason versucht sich als Öko-Aktivist, der Bäume verkauft,  Sophie bändelt mit einem Hersteller von Schildern und Plakaten an…   Nach 31 Tagen ist das bisherige harmonische Zusammensein fraglich geworden – die Zukunft offen.
Die Autorin und Video-Künstlerin Miranda July (sie spielt auch die weibliche Hauptrolle) hat einen federleichten Film komponiert, voll sanfter Ironie und leiser Melancholie. Lockere Dialoge, verspielte und surreale Szenen sind geschickt eingeflochten – besonders komisch die mit  krächzender Stimme eingefügten Kommentare der Katze, von der nur die beiden Pfötchen (das bandagierte und das heile) zu sehen sind. Doch wie die Darsteller und die Story – ein bisschen sehr ’softig‘ sind sie alle, gefallen sich allzu sehr in ihrer selbstverliebten, heiteren Sanftheit. Eben: Weicheier mit Charme.

LES FEMMES DE 6eme ETAGE  (Wettbewerb – ausser Konkurrenz) ***
Paris in den 1950er Jahren. Monsieur Joubert besitzt ein pompöses Wohn-Haus in einer noblen Strasse. Mit strenger, klatschsüchtiger Congierge natürlich und einem notdürftig ausgebautem 6. Stockwerk, nur über die Hintertreppe zu erreichen,  in dem fünf  äusserst temeramentvolle, spanische Putzfrauen wohnen, die jeweils in den verschieden Wohnungen des Hauses arbeiten.  Maria ist die hübsche Neue, die hinzukommt und die für Monsieur Joubert und seine Frau kochen und aufräumen darf (die alte ist ihm nämlich gerade davongelaufen). Es dauert nicht lange bis der etwas schüchtern-weichliche Joubert, Anlegeberater von Profession, sich in Maria verliebt und eine sehr französische Boulevard-Komödie sich daraus entwickelt – eifersüchtiges Ehefrau-Püppchen und Paella-mampfende Putzen eingeschlossen.
Nette Unterhaltung mit sehenswerter Pariser Haute-Couture, spanisch-flotter Musik und eleganten Dialogen. Und als augenzwinkender Nachschlag gibt’s ein sentimantal-romantisches Ende. Im täglichen Festival-Betrieb: eine harmlos-charmante Petitesse.

SING YOUR SONG (Wettbewerb – Berlinale Special) ***
Dokumentarfilm der Amerikanerin Susanne Rostock über den Sänger und Schauspieler Harry Belafonte. Konventionell, aber spannend gestaltet:  aus Interviews, historischen Zeitdokumenten, TV-Shows und Hollywood-Filmen („Carmen Jones“). Dabei liegt der Schwerpunkt weniger auf dem in aller Welt geschätzten Entertainer als vielmehr auf dem politisch engagierten Aktivisten. Belafonte, der vor 82 Jahren in Harlem geboren wurde, erfuhr schon früh in seinem Beruf vielfältige Demütigungen wegen seiner Hautfarbe: durfte z.B. das Hotel in Las Vegas, in dem seine umjubelte Show stattfand, nicht durch den Haupteingang betreten oder im dortigen Restaurant essen, lange Zeit waren gemeinsame Auftritte mit weissen Sängern oder Schauspielern verboten. Er engagierte sich bald in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, war befreundet mit Martin Luther King, animierte erfolgreich Hollywoodstars wie Marlon Brando zu aktiver Unterstützung. Später war Belafonte bei der Hungerkathastophe in Äthiopien tätig, verhalf der Südafrikanerin Miriam Makeba zu Auftritten in Amerika, um gegen die Apartheit aufzurütteln, und arbeitet bis heute als UNO-Botschafter.
Ein engagiertes Leben, mit sich daraus ergebenden Schwierigkeiten im Privaten, voll von politischem Optimismus und  voll von fröhlicher Musik.  Gespiegelt in 98 Minuten Film – für politisch oder sozial Erläuterndes bleibt da weniger Raum.

ALMANYA (Wettbewerb – ausser Konkurrenz)***
Erfrischende Komödie um eine türkische Familie in Deutschland. Der Grossvater kam vor 25 Jahren als Gastarbeiter aus Ostanatolien nach Deutschland, holte später die Familie nach, hat soeben auf Wunsch seiner Frau den deutschen Pass bekommen und – als künftigen Feriensitz -  ein Grundstück in der alten Heimat erworben. Jetzt muss die ganze Familie nebst Enkeln und deutscher Schwiegertochter dorthin reisen, um das erworbene Haus zu besichtigen und einzurichten.
Eine köstlich-bunte Collage aus Vergangenheit (mit alten Schwarz-Weiss-Bildern und Schlagern der damaligen Zeit) und Gegenwart; eine filmische Reise durch das Gastarbeiterland BRD. Vorurteile auf beiden Seiten werden freundlich ironisiert : in Bild und Ton. Witzig wie die Verhaltensweisen der verschiedenen Generationen gezeigt werden, köstlich wie die unterschiedlichen Kulturen aufeinanderprallen. Und wie schön, dass dieser jugendlich-temperamentvolle Spass von zwei türkisch-stämmigen Schwestern (Yasemin und Nesrin Samdereli) ausgedacht und – ohne platt zu werden – ins komödiantische Licht gerückt wurde: es darf herzlich gelacht werden – über Türken wie Deutsche.

SCHLAFKRANKHEIT (Wettbewerb)**
Deutscher Film von Ulrich Köhler, der unter Entwicklungshelfern in Kamerun spielt. Im ersten Teil steht der deutsche Arzt Ebbo Velten (Pierre Bokma) im Mittelpunkt, der ein durch europäische Gelder subventioniertes, kleines Krankenhaus im Urwald leitet, doch sein Arbeitsvertrag geht zu Ende.  Fau und Tochter kehren ins heimische Wetzlar zurück, während Velten so mit seiner Arbeit und Afrika verbunden ist, dass er sich zum Bleiben entschliesst. Im zweiten Teil, der einige Zeit später spielt, kommt der in Paris aufgewachsener farbige Arzt Alex (Jean-Christoph Folly) in die Buschklinik, um die Effektivität der Subventionsgelder zu überprüfen – er findet jedoch nur eine bessere Hühnerfarm, Velten selbst hat eine schwarze Frau geheiratet und treibt undurchsichtige Geschäfte.
Erzählt wird das alles nur in Episoden, eine durchgehend stringente Handlung mit nachvollziehbarem Ende gibt es nicht. Der Film besticht durch vielfältige Szenen und Bilder des afrikanischen Lebens und der – für Europäer – manchmal unverständlichen Denk- und Verhaltensweise der dortigen Bewohner. Durch kleine, scheinbar nebensächliche Details werden die Personen präzise charakerisiert, und so auch versucht, den Zwiespalt der beiden Hauptfiguren (der Deutsche mit Afrika im Herzen, der französiche Afrikaner mit Abneigung gegen die ‚Landsleute‘ und umgekehrt) deutlich werden zu lassen. Insgesamt aber besitzt der Film – schon durch seine offene dramaturgische Struktur – etwas Unbestimmtes und Vages. Als ob der Regisseur sein eigentliches Thema nur in Einzelbeoachtungen und Episoden umkreist, den Kern aber nicht benennen will oder kann.

ODEM (Wettbewerb) **
Israelischer Spielfilm um zwei palästinensische Freundinnen. In Ramallah waren sie Schulkammeradinnen, als Studentinnen in London trennten sich ihre Wege, in der Gegenwart sind sie sich fremd: die eine als gutbetuchte Ehefrau mit Sohn in einem eleganten Londoner Vorort, die andere als verzweifelt am Leben Gescheiterte. Eine stark konstruierte Geschichte vor politischem israelisch-palästinensischem Hintergrund um erotische Verwirrungen zwischen zwei Frauen. Zwar beeindrucken die beide Darstellerinnen, aber insgesamt bleibt der rückblenden-lastige Film unausgewogen und unklar in seiner Zielrichtung.

SARANGHANDA, SARANGHAJI ANNEUNDA (Wettbewerb) **
Ein reiches, noch junges Paar trennt sich: er ist Architekt, sie Verlegerin. Sie leben in einem modisch-schicken Appartment-Haus in der Nähe von Seoul. Zwei Stunden schweigen sie sich mehr oder weniger an, packen ein und wieder aus. Da aber der Regen über Süd-Korea nicht nachlässt, können sie nicht in das anvisierte Nobel-Restaurant fahren, bleiben zu Hause und kochen Pasta. 105 Minuten plustert sich modisch-filmischer Minimalismus auf: langweilig und banal.

UN MONDO MISTERIOSO (Wettbewerb) **
Beziehungs-Geschichte ohne Handlung aus Argentinien. Ana und Boris sind ein Paar so um die Dreissig. Ana erklärt, sie brauche Zeit zur Selbstfindung. Boris, ein sanftmütiger Softie, zieht in ein bescheidenes Hotel. Seine Tage vertreibt er sich mit Busfahrten und der Beobachtung von jungen Frauen. Er kauft sich ein altes Auto, unternimmt Ausflüge in die Umgebung, tifft einen Freund, geht mit dem auf eine Party  und kehrt am Ende in die Wohnung zu Ana zurück – auch wenn sie sich eigentlich nichts zu sagen haben. Elegant gefilmt, aber langatmig.

 

V  SUBBOTU (Wettbewerb) **
Tschernobyl, Sonnabend, den 26.April 1986. In der Nacht ist ein Reaktor des Kernkraftwerkes geplatzt. Valery, ein junger Mann rennt, auch wenn er nur ahnt, wass passiert sein könnte, durch endlose Gänge, duch den Wald,  Landstrassen entlang. Er holt seine verdutzte Freundin Vera aus ihrem Arbeiterinnenheim, versucht einen abfahrenden Zug zu erwischen. Die Handkamera folgt dieser überstürtzten Flucht, sitzt den beiden quasi im Nacken.
Doch sie verpassen den Zug, geraten stattdessen in eine Hochzeitsfeier, deren Gäste noch nicht wissen oder begreifen, was passiert ist. Valery ersetzt in der kleinen Band, die zum Tanz aufspielt, den besoffenen Schlagzeuger. Immer mehr steigert er sich in eine hysterische Verzweiflung, Alkohol lässt die Stimmung des Festes ins Exzessive hochschäumen. Am Ende entkommt er mit den Freunden von der Band in einem Boot : vorbei am zerstörten Reaktor.  Sind sie schon lebende Tote ?
Der Films des ukrainische Regisseurs Alexander Mindadze ist erschreckend und bitter. Die hektische Fluchtbewegung – nur weg! -  spiegelt sich in stark schwankenden, teilweise unscharfen Bildern der Kamera und in bedrohlichen Tönen aus der realen Umwelt. Doch nach der ersten  Hälfte tritt der Film auf der Stelle. Das endlose Saufen und Feiern bei der Hochzeit im Kulturhaus, dieWackel-Optik der Bilder und ihre fast ausschliessliche Konzentation auf Grossaufnahmen der schwitzender Gesichter ermüden, wiederholen nur bereits Erzähltes. Die unheimliche Bedrohung, die von dieser Katasthrophe ausgeht und die durch die Flucht-Sequenzen zunächst so erschreckend vermittelt wird, verliert in den allzubreit ausgespielten Feier-Szenen ihre aufwühlende Wirkung und lässt das Interesse des Zuschauers am Geschehen abflachen.

YELLING TO THE SKY (Wettbewerb)**
Sozial- und Familiendrama in einem heruntergekommenen New Yorker Vorort. Arbeitslosigkeit,
Gewalt und Drogen bestimmen das tägliche Leben in der schäbigen Reihenhaussiedlung, die überwiegend von Farbigen bewohnt wird. Die hellhäutige,17-jährige Sweetness, lebt mit ihrer älteren Schwester Ola, die ein Baby bekommt, der nervenkranken, schwarzen Mutter und ihrem weissen Vater in trostlosen Verhältnissen. Kein Geld, kein Verständnis, der Vater schlägt Mutter und Kinder, wenn er besoffen nach Hause kommt – und dennoch klammert sich die Familie aneinander. Sweetness versucht ihre Opferrolle, die sich auch durch Schulkameraden erleiden muss, abzustreifen und wird zur cool-gestylten Dealerin. Als jedoch ihr ‚Arbeitgeber‘ eines Tages von vermummten Gestalten erschossen wird, hört sie mit dem Dealen auf, versucht auf ein College zu kommen und bleibt vorerst bei ihrer (unerwartet friedlichen) Familie.
Die amerikanische Regisseurin Victoria Mahoney hat autobiographische Erfahrungen in ihren Film eingearbeitet. Schonungslos, fast dokumentarisch schildert sie den gewalttätigen Alltag dieser unterprivelegierten, farbigen Schicht. Überzeugende Darsteller verdichten diese zupackende Schilderung des grausamen Lebens sozialer Unterschichten. Doch die Story selbst ist wenig überzeugend: die innere Wandlung von Sweetness zu Dealerin und danach zur strebsamen Schülerin und Tochter wird kaum begründet. Und dass der brutale Vater sich am Schluss zum weichherzigen Familienoberhaupt mausert, wirkt völlig unglaubwürdig. Das gezeigte Milieu scheint stimmig, die Geschichte jedoch eher gängigen  Kino-Gesetzen angepasst.

UNKNOWN (Wettbewerb – ausser Konkurrenz) **
Berlin als winterlich-düstere Kulisse für einen Action-Thriller. Der Plot dreht sich um eine kriminelle Pharma-Lobby, die hinter einem Berliner Wissenschaftler her ist, der im Hotel Adlon einen grossen Kongress einberufen hat. Liam Neeson spielt einen Amerikaner, der als befreundeter Wissenschaftler zu diesem Kongress in Berlin einfliegt.  Bei einer Taxifahrt wird er in einen Verkehrsunfall (auf der Oberbaumbrücke) verwickelt, liegt danach vier Tage traumatisiert in einem Krankenhaus und,  als er ins Adlon zurückkehrt, will ihn seine Frau nicht mehr erkennen. Ausweis- aber nicht geldlos hetzt er durch die Stadt, wird plötzlich von unbekannten Gangstertypen verfolgt, sucht Hilfe bei einem alten Stasi-Mann (köstlich-kauzig:Bruno Ganz) und einer hilfsbereiten, bosnischen Taxifahrerin (charmant: Diane Krüger). Rasante Auto-Verfolgungsjagden (durch die Friedrichstrasse und die Dussmann-Kolonaden) wechseln ab mit brutalen Schlägereien auf Dächern und Parkdecks. Und am Ende jagt eine Bombe gar das halbe Adlon in die Berliner Luft.
Temporeich und aufwendig gefilmter Thriller (Regie: der Spanier Jaume Collet-Serra), aber ohne jeglichen ‚doppelten Boden‘ , wie ihn beispielsweise ein Hitchcock so raffiniert durchscheinen lässt,  bei dessen Filmen auch hier manche Anleihe getätigt wurde.  Action um der Schauwerte willen, so kintopp-gemäss zusammen geschnitten wie die lokalen Örtlichkeiten unrealistisch aneinandergereiht – was zählt ist der Effekt.


EL PREMIO (Wettbewerb) **
Polit-Plotte von Paula Markovitsch. Im Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur haust eine junge Frau mit ihrer 7-jährigen Tochter in einer ärmlichen Hütte an einem winterlich-öden Meeres-Strand. Die Frau vermutet, dass ihr Mann von der Junta eingesperrt wurde und verheimlicht deshalb ihre Identität. Den Filmtitel-gebenden Preis gewinnt die kleine Tochter in der Dorfschule für einen die heimische Armee lobenden Aufsatz, obwohl sie zuerst einige abfällige Sätze über Soldaten aufgeschrieben hatte, die (unbewusst) die Haltung der Mutter wiedergaben.
Sicherlich politisch und moralisch gut gemeint, aber so träge in Szene gesetzt, in blassesten Grau- und Blautönen, dass das Interesse an der Geschichte sehr schnell nachlässt.

CORIOLANUS (Wettbewerb) *
Kriegsszenen auf dem Balkan: bennende Ruinen, harte Attacken, Söldner, protestierende Arbeiter und Studenten in den Strassen. Sakespeare’s Drama übertragen in die Gegenwart: Coriolan als brutaler General im modernen, grünen Kampfanzug. Gegenschnitt:  klassizistische Villen mit modisch-elegantem Interieur: hier spielen die Szenen im römischen Senat, in Coriolans Familie.  Auf der Strasse davor  marschieren streikende Arbeiter, Frauen, Studenten, kurz: das Volk.  Gesprochen werden Shakespeare-Verse: und so werden auch die lateinischen Personen- und die antiken Orts-Namen beibehalten. Ein merkwürdiger Kontrast, der keine fruchtbare Reibung erzeugt – eher zum Theatralisch-Lächerlichen tendiert.
Coriolanus, der römische Feldherr, der auf Grund seiner militärischen Erfolge erst zum Herrscher ernannt und dann seines Hochmuts wegen verbannt wird, ist sicher nicht Shakespeare’s bedeutendstes Drama. Auch was den – als Regisseur debütierenden -  Schauspieler Ralph Finnies an der Geschichte interessiert hat, bleibt ziemlich unklar. Die Auseinandersetzungen um Macht und Herrschaft, um Beteiligung des Volkes daran, um Stolz und Verrat  – bei Shakespeare theatralisch-gedankliche Auseinandersetzungen und Aktionen  – missraten im Kostüm von heute zu hölzernen Schwarz-Weiss-Diskussionen; die Figuren schrumpfen – trotz der guten Schauspieler (Finnies selbst in der Titelrolle, Vanessa Redgrave als seine Mutter)  – zu hohl tönenden Papp-Kamaraden. Viel Lärm um Nichts.

nicht gesehen: JODAEIYE NADER AZ SIMIN (Asghar Farhadi / Wettbewerb)  -  Goldener Bär

                         A TORINOI LO (Bela Tarr / Wettbewerb)