Eine ganz normale Familie: ‚Nader und Simin – Eine Trennung‘ von Asghar Farhadi ****

Teheran heute: Nader ist Bankangestellter, Simin arbeitet als Lehrerin, beide gehören einer wohlhabend-bürgerlichen Mittelschicht an, ihre 11jährige Tochter Termeh ist eine kluge, gut erzogene Schülerin. Doch etwas läuft schief in dieser kleinen Familie:  in der langen, ersten Szene des Films sitzen Nader und Simin (frontal in die Kamera blickend) vor dem Scheidungsrichter und begründen wortreich ihre jeweilige Position. Simin möchte ins Ausland, da ihre Tochter nicht unter den aktuellen Bedingungen im Iran aufwachsen soll (die notwendigen Papiere hat sie bereits in der Tasche), doch Nader will seinen alzheimerkranken Vater, der bei ihnen wohnt, nicht verlassen. Mit der Frage, ob die Tochter nicht auch in Teheran gut aufwachsen könne, weisst der Richter die Scheidungsklage kühl zurück.
Daraufhin verlässt Simin, die sich von Nader unverstanden fühlt, die gemeinsame Wohnung, und zieht zu ihrer Mutter, während die noch schulpflichtige Tochter darauf beharrt, bei Papa und dem kranken Grossvater zu bleiben. Da Nader tagsüber in der Bank arbeitet und Termeh zur Schule muss, verpflichtet Nader für die Zeit seiner Abwesenheit eine junge Frau als Haushaltshilfe und Pflegerin seines Vaters. Diese junge Frau, die aus einem der ärmeren Vorstadtviertel kommt, entpuppt sich als eine etwas schüchterne, aber streng gläubige Muslimin, deren Mann arbeitslos und deshalb überschuldet ist. Doch schon schnell zeigt sie sich von der Aufgabe, den alten Mann sachgerecht zu pflegen, überfordert. Nach einem Zwischenfall, bei dem der alte Mann fast zu Tode kommt, wirft der erregte Nader die Frau aus der Wohnung, dabei stürzt sie auf der Treppe und erleidet eine Fehlgeburt. Nader wird verhaftet und und es kommt zu einem Gerichts-Prozess, in dem beide Seiten – Nader und seine hinzukommende Frau Simin, die junge Muslimin und ihr arbeitsloser, leicht erregbarer Ehemann – sich gegenseitig beschuldigen, am Treppensturz und der damit verbundenen Fehlgeburt schuld zu sein. Doch wusste Nader überhaupt, dass die Frau schwanger war? Warum hat diese zuvor den Vater ans Bett gefesselt und für einige Zeit die Wohnung verlassen? Jede Person erzählt ihre Sicht der Dinge, verschweigt aber für sie anscheinend ungünstige Details, beschuldigt mit immer neuen Argumenten die anderen.
Auch der Film-Zuschauer erahnt erst am Ende, was wirklich passiert sein könnte, da  der iranische Regisseur  Asgahr Farhadi immer wieder die Perspektiven und Blickwinkel wechselt und auch (wie sich am Ende herausstellt) wichtige Details bildlich ausspart.  Durch diese raffinierte Dramaturgie und ihre treffliche filmische Umsetzung (Handkamera, milchchige Glastüren, Spiegel) gewinnen die Personen komplexen Charakter,  keiner ist gut oder böse, alle haben einsichtige Gründe oder (moralisch) nachvollziehbare Absichten für ihre Handlungsweisen, auch wenn sie dabei oft das Falsche tun.
Politische und religiöse Gegebenheiten, soziale Bedingungen, individuelle Disposition und persönliches Temperament vermischen sich zu einem vielschichtigen Porträt der iranischen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. Eine Welt zwischen hübsch eingerichteten Neubau-Wohnungen, wie man sie auch in Paris oder Berlin finden kann, und langen, kahlen Polizei- und Gerichts-Fluren, die in ihrer düsteren Kälte ebenso abschreckend wie bedrohlich wirken. Nichts scheint eindeutig in diesem authentisch wirkendem Kammerspiel aus einem politisch wie religiös zementierten Land – und gleichzeitig ist alles menschlich sehr verständlich und nachvollziehbar.
Ein klug inszenierter, exzellent gespielter Film -  spannend, bewegend und nachdenkenswert.

Poster /Verleih: Alamode Film

zu sehen: fsk (OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Odeon (OmU); Capitol; Delphi; International; Kulturbrauerei; Yorck