Wundersame Menschlichkeit: ‚Le Havre‘ von Aki Kaurismäki ****

Einst war Marcel Marx (Andre Wilms) ein schriftstellernder Künstler in Paris (in Kaurismäkis “La vie de Boheme“, 1992), jetzt lebt er als Schuhputzer in Le Havre: so könne er der Gesellschaft besser dienen, wie er einmal trocken bemerkt. Mit seiner Frau Arletty (Kati Outinen) und der Hündin Laika führt er ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben – in einem ärmlichen Vorstadtviertel mit Bäckerei, Gemüseladen und Bar, einer Welt der ‚kleinen’, liebenwerten Leute. Doch plötzlich erkrankt Arletty schwer, muss ins Krankenhaus, ohne grosse Hoffnung auf Heilung. Im Hafen entdeckt die Polizei in einem Schiffs-Container ein Gruppe schwarzer Flüchtlinge, die nach London geschleusst werden sollte: keine ausgemerkelten Assylanten, sondern selbstbewusste, sauber gekleidete Menschen mit grossen, fragenden Augen. Einer, ein flinker Junge, kann der Polizei entfliehen, Marcel findet ihn zufällig, als der sich unterm Hafen-Quai versteckt, nimmt ihn mit nach Hause. Und er animiert mit Erfolg das gesamte Viertel, dem schwarzen Jungen namens Idrissa (Blondin Miguel) zu helfen: die Bäckerin, der Gemüsehändler, die Kneipenbesitzerin verbergen ihn vor der Polizei, organisieren ein Benefizkonzert mit einem Alt-Rocker und sammeln so das nötige Geld für den Schleusser zur Weiterfahrt Idrissas zu seiner schon in London befindlichen Mutter. Sogar der misantrophische Kommissar hilft am Ende dabei: er sei für Verbrechen, nicht für die Steuer oder die Einwanderung zuständig, rechtfertigt er sein Verhalten lakonisch. Und nachdem Idrissa glücklich – dank der Hilfe Marcels und der guten Nachbarn – seinen Häschern entkommen ist, geschieht ein weiteres Wunder: Arletty kehrt geheilt aus dem Krankenhaus zurück. Während die Kamera den nun prachtvoll aufblühenden Kirschbaum im Vorgärtchen zeigt, hört man sie nüchtern sagen, dass sie jetzt erstmal das Abendessen zubereiten will.
Es ist eine heikle Balance, die dieser Film eingeht: zwischen romantischem Sozial-Märchen und böser Realität, zwischen Menschlichkeit und Solidarität auf der einen, und materieller Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einer globalisierten Welt auf der anderen Seite. Kaurismäki gelingt diese schwierige Gradwanderung durch seinen filmischen Minimalismus, der die Künstlichkeit der Geschichte nicht kaschiert, sondern deutlich und offen zeigt. Die Mitmenschlichkeit und die Gutherzigkeit Marcels und seiner Freunde werden so zum bewusst-ideellen, filmischen Gegenentwurf zur kalten Realität der heutigen, rein ökonomisch organisierten Welt. Kaurismäki schildert das Leben der kleinen Leute in raffiniert ausgeleuchteten Farbbildern, überwiegend in grünen oder blauen Tönen mit leuchtend-roten Akzenten, und trotz der Farbe ganz im Stil der schwarz-weissen Filme der 40-ger und 50-gerJahre des letzten Jahrhunderts, ein wenig italienischer Neorealismus, ein bisschen französischer „film noir“ – und nicht zufällig heisst Marcels Frau ‚Arletty’ wie die berühmte Schauspielerin der weibliche Hauptrolle in Marcel Carne’s „Le Jour se leve“ von 1939, der ebenfalls in Le Havre spielt. In dieser künstlichen Welt nimmt auch die Musik eine wichtige Rolle ein, ob französische Musette oder altmodisch-temperamentvoller Rock (eine herrliche Nummer mit dem echten Altrocker Roberto Piazza). Wunderbar auch der Kaurismäki eigene, trockene Humor – der immer wieder in den lakonisch-knappen Dialogen aufblitzt und dadurch jedes falsche Pathos oder Sentimantalität unterläuft.
Kein Film für die Blockbuster-Generation, aber ein gelungenes, realistisches Leinwand-Märchen, kraftvolles und intelligentes Kino, traditions-satt und gegenwarts-bewusst.

Foto/Poster: Pandora Filmverleih

zu sehen: fsk (OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Cinema Paris; CinemaxX Potsdamer Platz; International; Filmtheater am Friedrichshain; Kant Kino; Kulturbrauerei; Yorck