Sterben in Schönheit: ‚Melancholia‘ von Lars von Trier ****

Ein Weltuntergangs-Märchen in schwelgerischen Filmbildern. Zuerst ein knapp 10-minütiger Prolog: in einem düsteren Park verharkt sich die weisse Schleppe einer Braut in seltsamen Fäden und Baum-Geäst, eine andere Frau mit Kind auf dem Arm versinkt beim Fliehen anscheinend im Morast, tote Vögel fallen vom dämmrigen Himmel, ein Pferd stürzt, ein schnell sich nähernder riesiger, blauer Planet prallt auf die Erde – kurze, surreale Szenen, unterlegt mit Richard Wagners „Tristan“-Vorspiel.
Danach beginnt erst die eigentliche Geschichte, unterteilt in zwei grosse Abschnitte. Der erste zeigt – mit ruhiger Handkamera gefilmt – eine pompöse Hochzeitsfeier, die Claire (Charlotte Gainsbourg) für ihre -  in der Werbebranche tätige -  Schwester Justine (Kirsten Dunst) auf einem herrschaftlichen Landsitz am Meer ausrichtet. Claire bewohnt dieses schlossähnliche Gebäude mit Park und Pferdegestüt zusammen mit ihrem – wie sie sagt -  steinreichen Mann John (Kiefer Sutherland) und ihrem kleinen Sohn Leo. Viele Freunde und Familienmitglieder sind zur luxuriösen Party geladen, auch die geschiedenen Eltern der beiden Schwestern: die Mama, eine giftsprühende Hexe (Charlotte Rampling), der Vater, ein senil-lüsterner Greis (John Hurt). Je länger der Abend dauert, je mehr demaskiert sich die familiäre Gesellschaft. Justine, die Braut, wird von ihren Depressionen überwältigt, John schmeisst die Schwiegermutter raus, zwischen Justine und ihrem sich jovial gebenden, aber eiskalten Arbeitgeber kommt es zu beleidigenden Auseinandersetzungen, der etwas naive Bräutigam verpatzt seine Ansprache und wird noch in der Nacht von Justine zum Hahnrei gemacht.
Dieser turbulenten Hochzeitsnacht, einem sarkastisch-bösen Familien-Porträt mit unheimlichen Untertönen, folgt am kommenden Morgen ein schreckliches Erwachen: der Planet Melancholia nähert sich – entgegen allen wissenschaftlichen Beschwichtigungen – unaufhaltsam der Erde, droht sie zu zerstören. In diesem kammerspielartigen, zweiten Teil des Films geraten Claire und John in Panik – ebenso wie die Reitpferde im Stall und die gesamte Natur der umgebenden Landschaft : nur Justine erwacht aus ihrer Depression zu einer tranceähnlichen Ruhe und scheint den Planeten sowie das Ende der Erde geradezu herbeizusehnen. Sie errichtet aus Baumstämmen eine angedeutete Hütte, eine ‚Zauberhöhle‘ wie sie dem kleinen Leo versichert, und erwartet dort Hand in Hand mit Claire und dem Kind den alsbald erfolgenden Aufprall des Planeten: eine blitz-durchzuckte, fulminant gefilmte Apocalypse.
Lars von Trier, zugleich Drehbuch-Autor und Regisseur,  zeichnet auch in diesem Werk ein äusserst pessimistisches Welt- und Menschenbild. Männer sind wie in seinen meisten Filmen entweder brutale Kapitalisten oder naive Schwächlinge, seine Heldinnen sind immer Frauen: Björk als erblindende Arbeiterin (‚Dancing in the Dark‘), Nicole Kidmann als rächender Engel (‚Dogville‘) oder -  jetzt in ‚Melancholia‘ -  Kirsten Dunst als zunächst depressive, dann aber das Schicksal des Sterbens annehmende Justine. Doch seine Faszination gewinnt dieses dunkle Weltuntergangs-Szenario durch die Kraft und die Schönheit seiner Bilder: sowohl derjenigen, die die bürgerliche Familie als dekadent-fiese Gemeinschaft entlarven, sowie auch der, die ein melancholisches Ende dieser Gesellschaft voraussehen. Die berühmte, aber längst verblichene, dänische Dogma-Schule findet in dieser raffinierten und eleganten Inszenierung auf einer neuen Ebene starkes Pathos und grosse Intensität, die auch alle Unwahrscheinlichkeiten der ‚realistischen‘ Geschichte überspielen und aus einer sanften Grusel-Story eine in sich stimmige Film-Parabel werden lassen.
Ob das pessimistische Welt- wie Menschenbild des Lars von Trier, das ihr zu Grunde liegt, den Zuschauer anspricht und überzeugt, ist eine andere und offene Frage.

Foto/Poster: Concorde Filverleih GmbH

zu sehen: CineStra Sony Center (OV); Hackesche Höfe Kino (OmU); International (OmU und dt.Fassung); Odeon (OmU); Blauer Stern Pankow; Capitol; CinemaxX Potsdamer Platz; Delphi; Filmtheater am Friedrichshain; Kino in der Kulturbrauerei; Passage; Yorck