Schwarze Romantik: ‚Faust‘ von Alexander Sokurov ***

„Frei nach Goethe“ heisst es im Vorspann des Films, und tatsächlich berücksichtigt der russische Regisseur Alexander Sokurov nur einige wenige Handlungspunkte und Figuren von Goethes theatralischem Gedicht. Sattdessen zeigt er das düster-groteske Bild einer deutschen Kleinstadt im frühen 19.Jahrhundert, durch die ein von Hunger und Geldmangel gehetzter Arzt und Leichensezierer namens Faust (Johannes Zeiler) scheinbar orientierungslos taumelt. Er begegnet einem Pfandleiher und Wucherer (Anton Adassinsky),  der ihn zu allerlei merwürdigen Taten anstachelt und der auch die entscheidende Begegnung mit der jungen Margarete (Isolda Dychauk) herbeiführt:  in einem stark bevölkerten, lauten Wasch- und Badehaus. Im Schlussteil – nach Gretchens Tod -  fliehen Faust und sein körperlich verwachsener Mephisto in eine weite Landschaft mit bedrohlichen Geysiren. In seiner Gehetztheit erschlägt Faust,  nachdem er einen merkwürdigen Pakt – mangels Tinte – mit Blut unterzeichnet hat, seinen ihm nun hinderlichen, dämonisch-nosferatuhaften Begleiter und eilt auf einem hohen Gletscher zu: „Weiter.Weiter!“
Sokurov zeigt eine Welt wie in fühen deutschen Stummfilmen: mit romantisch verwinkelten Gassen, unheimlichen Gewölben und seltsamen Personen in hohen Zylindern oder schweren, voluminösen Roben. Ein Kuriositäten-Kabinett in fahlen Farben mit vorbeihuschenden Ratten, ausgenommenen Leichen, grölenden Soldaten, aber immer so arrangiert, als ob es sich um Gemälde einer schwarzen Romantik handele – sorgfältig kadriert auf das Format eines Stummfilms. Die Kamera (Bruno Delbonnel) ist äusserst beweglich, scheint die Personen hinter sich herzuziehen, verzerrt auch gelegentlich ihre blau- oder grün-stichigen Bilder ins Komisch-Groteske. Szenen einer makaber- biedermeierlichen Gesellschaft, der Faust entflieht…
Gedreht wurde der Film in St.Petersburg mit deutschen und russischen Darstellern, gesprochen wird (in der Originalfassung) ein modernes Umgangsdeutsch, durchsetzt mit einzelnen Goethe-Zitaten. Sokurov selbst bezeichnet diesen „Faust“ als Abschluss einer Tetralogie über die Macht und das Böse – doch es wird in diesem Zusammenhang (d.h. mit Filmen über Hitler, Lenin, Kaiser Hirohito) nicht ganz klar, was er damit meint.
„Faust“ ist ein Werk voll raffinierter Künstlichkeit, das vieles andeutet, aber ebenso viel offen lässt. Es sind einprägsame, fantasievolle, auch mysthische Bilder, gleichsam eine filmische Mischung aus Murnau und Tarkowski, deren tieferer Sinn sich aber hinter – ausgiebig gezeigten – Nebelschleiern und Wolken verbirgt.

Poster/ Verleih: MFA

zu sehen: Filmkunst 66; Filmtheater am Friedrichshain; Hackesche Höfe; Krokodil; Neues Off; Sonntagsmatinee: Delphi; International