Musikalisches Glück: ‚Tancredi‘ in der Deutschen Oper ****

Als Gioacchino Rossini 1813 seine neue Oper „Tancredi“ (nach einem Schauspiel von Voltaire) in Venedig uraufführte, endete sie ganz konventionell mit einem glücklichen Schluss. Wenige Monate später bei der zweiten Inszenierung in Ferrara lies Rossini seinen Helden – ganz ungewöhnlich für jene Zeit – am Ende sterben: das Publikum reagierte empört und der Komponist musste für lange Zeiten das sogenannten ‚lieto fine‘, das Happy End der ursprünglichen Fassung wiederherstellen. Heute dagegen wird eher der tragische Ausgang, jenes musik-dramatische Experiment von Ferrara, bevorzugt -  so auch jetzt an der Deutschen Oper Berlin.
Szenisch importiert das Haus in der Bismarckstrasse dafür eine Produktion vom italienischen Rossini-Festival in Pesaro aus dem Jahr 1999. Doch die Inszenierung des italienischen Regie-Veteranen Pier Luigi Pizzi, der auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich ist, entpuppt sich als sehr konventionelles Arrangement mit Säulen, Treppen und Reliefs in blankem Mamor sowie Sängern in weissen oder schwarzen Gewändern (halb alt-römisch, halb mittelalterlich), die sich vorzugsweise an der Rampe aufstellen und direkt ins Publikum singen – akustisch natürlich ein grosser Vorteil. Das Beste, was diese Inszenierung leistet, ist, dass sie die durch eine Brief-Intrige zerstörte Liebesgeschichte des sizilianischen Ritters Tancredi (vor dem Hintergrund der Sarazenen-Kriege zu Beginn des 11.Jahrhunderts) schlicht und klar erzählt – und vor allem: dass sie die Musik nicht stört.
Zumal wenn Rossinis quick-lebendige Musik mit ihren vokalen und instumentalen Finessen so hervorragend dirigiert wird wie von dem grossartigen Alt-Meister Alberto Zedda (84), einem der besten Rossini-Kenner unserer Tage. Unter ihm läuft das Orchester der Deutschen Oper zu Hochform auf: die Musik pulsiert und federt, alles klingt duftig und durchsichtigt, die Tempi sind straff und klug dynamisiert, nie – auch nicht im rasend schnellen Finale des 1.Akts – wird gehetzt oder übertrieben. Zedda verpasst den perlenden oder auch mal melancholischen Melodien die kluge Mitte: Rossini im Goldenen Schnitt.
Und auch der Chor – ausschliesslich Männerstimmen – und die sechs Solisten fügen sich passgenau in diese Lesart des frühen Belcanto ein. Etwas verhalten der helle Tenor von Alexej Dolgov (als väterlicher Argirio), mit kantablem Bass-Bariton Krzysztof Szumanski (in der Rolle des bösen Rivalen Orbazzano), mit schönem Mezzo Clementine Margaine (als Dienerin und Vertraute Isaura) sowie Hila Fahima mit klingendem Sopran (in der kleinen Nebenrolle des Dieners Roggiero).
Für die Titelrolle des Tancredi setzt die israelische Mezzosopranistin Hadar Halevy ihren dunklen, samt-weichen Mezzo ein, brilliert in den beiden grossen Duetten und zuvor mit der  (damals europaweit) zum Ohrwurm avancierten Auftritts-Arie ‚Di tanti palpiti’  – allerdings fehlt ihr (vor allem im zweiten Teil) ein wenig die Durchschlagskraft. Königin des Abends ist zweifelsohne die italienische Sopranistin Patrizia Ciofi als unglücklich liebende Amenaide: perfekt in der Ausgewogenheit zwischen strahlenden Koloraturen und trauerumflorten Legato-Bögen, stilsicher und anrührend zugleich. Niemals wird ihre vokale Virtuosität zum Selbstzweck, nie opfert sich die gesangliche Linie vordergründigen Effekten. Vielmehr fügt sich Patrizia Ciofi ebenso elegant wie selbstsicher in den musikalischen Gesamtablauf ein.
Dank dieser Sänger und dank der klaren, diziplinierten Leitung durch Alberto Zedda – ein glücklicher Rossini-Abend, italienischer Belcanto in seiner schönsten und mustergültigsten Form.

Foto: Bettina Stoess/ Deutsche Oper Berlin

nächste Vorstellungen: 1. und 4.Februar 2012