Die Erfindung der (Kino-)Träume: ‚Hugo Cabret‘ von Martin Scorsese ****

Es sind eigentlich zwei Geschichten, die Martin Scorsese in seinem neuen Film miteinander verquickt – beide spielen in einem märchenhaften Paris des Jahres 1931. Zum einen ist es die Story  des 12-jährigen Hugo, der seit dem Tod seines Vaters heimlich im Bahnhof Montparnasse wohnt und dort alle Uhren des weitläufig-geheimnisvollen Gebäudes überwacht, aufzieht oder zeitlich korrigiert. Doch Hugo’s eigentliches Interesse gilt der komplizierten Reparatur einer mechanischen Puppe, durch die er sich eine Botschaft von seinem (bei einem Brand ums Leben gekommenen) Vater erhofft. Und tatsächlich: mit Hilfe eines herzförmigen Schlüssels, den er zufällig von der Adoptivtochter eines alten Spielzeughändlers erhält,  gibt die roboterähnliche Puppe ein erstes Geheimnis preis…
Die zweite Geschichte, die Scorsese erzählt, schildert das Leben des Film-Pioniers Georges Mellies, einem ehemaligen Zauberkünstler, der als Erster kleine Spielfilme inszenierte (um 1900)  – und so zum Schöpfer eines ebenso naiven wie poetischen Kinos wurde. Doch setzte der erste Weltkrieg und die damit erfolgte Wandlung des Publikumsgeschmacks der weiteren Karriere von Mellies ein Ende, verzweifelt zerstörte er viele seiner Filme. Seinen Lebensunterhalt verdiente er danach als Inhaber eines kleinen Spielwarengeschäftes im Bahnhof Montparnasse. Und hier kreuzen sich dann seine und Hugos Wege : bis zu einem anrührenden Film-Happy-End.
Martin Scorsese, dessen Filme bisher ausschliesslich in einer realistischen, harten Männer-Welt spielten und der sich in den letzten Jahren aber auch sehr für die Rettung und Restaurierung alter Werke engagierte, huldigt mit dieser phantasievollen Kinder-Story vor allem den Pionieren der Filmgeschichte, insbesondere dem ersten, kinematographischen Zauberer Georges Mellies. Raffinierterweise tut er das, indem er die allerneuesten, digitalen Techniken (3D!) verwendet, um die Magie des alten Kinos wieder erstehen zu lassen: seinen bunten Jahrmarktszauber und seine grosse poetische Kraft. So belebt er  auf raffiniert-elegante Weise die alte ‚Reise zum Mond‘ wieder, wo die mittels einer (comicartig gezeichneten) Rakete angereisten, irdischen Mond-Besucher von wundersamen Nixen, Meermännern und fliegenden Fischen bezaubert werden.
Scorsese zitiert jedoch nicht nur Mellies, sondern spielt klug und geschickt mit den Ideen und Errungenschaften des frühen Kinos -  zeigt wild-rasende Eisenbahnen und Verfolgungsjagden durch überfüllte Bahnhöfe, lässt einen giftig-smarten Wachmeister samt zähnefletschendem Dobermann dem Waisenkind Hugo auflauern und verfolgt dann in atemberaubendem Tempo dessen Flucht durch endlose Gänge, über steile Treppen und durch riesige Räderwerke  -  bis Hugo sich in schwindelnder Höhe angstvoll-verzweifelt an den Zeiger der Aussenwand-Uhr klammert wie einst im Stummfilm Harold Lloyd  – und tief unten schimmern traumhaft die Lichterketten eines nächtlichen Paris.
Sicherlich, die Geschichte ist immer vorhersehbar, die Figuren bleiben märchenhaft und manches Detail dramaturgisch unklar. Beispielsweise: was geschah tatsächlich mit dem Notizbuch ?
Ben Kingsley spielt überzeugend den – erst verbitterten, dann aber gütigen – alten Filmpionier Mellies, doch die übrigen Darsteller (oft in winzigen Cameo-Auftritten) und leider auch die beiden Kinder bieten wenig mehr als nette Chargen.
Trotzdem: ein üppiges, virtuoses und vielschichtiges Film-Märchen für Jung und Alt. Ob jedoch die  ‚Generation Facebook‘,  eine der Hauptzielgruppen der Filmindustrie, damit etwas anfangen kann, muss sich erst zeigen.

Poster /Foto: Deutsche Paramount Film Verleih

zu sehen: Cineplex Neukölln; Cubix Alexanderplatz; CineStar in Tegel, in Spandau, am Treptower Park; Gropius Passagen; Kulturbrauerei; UCI Am Eastgate; Titania Palast; Colosseum u.a.