Jäger und Gejagter: ‚Shame‘ von Steve McQueen ****

Brandon Sullivan (Michael Fassbender) ist ein gut aussehender, smarter Mittdreissiger,  arbeitet – gut bezahlt – in einer New Yorker Werbefirma, wohnt in einem luxuriösen Appartement mit Blick aufs Wasser und die gegenüberliegende Skyline. Bindungslos und sex-süchtig. Er sucht den schnellen One-Night-Stand, bestellt Prostituierte zu sich, chattet im Internet, masturbiert häufig. Plötzlich erscheint seine jüngere Schwester Sissy (Carey Mulligan), quartiert sich – angeblich nur für einige Tage – in seiner Wohnung ein. Sie ist in ihrer unverblümten, direkten Lebhaftigkeit äusserlich das Gegenteil des coolen Brandon, innerlich aber eine sehr labile, ihren jeweiligen Gefühlen ausgelieferte junge Frau, die Schutz und Hilfe von ihrem Bruder erwartet. Doch der sieht sich durch Sissy, die gelegentlich als Sängerin in eleganten New Yorker Clubs auftritt, in seiner persönlichen Freiheit und dem Ausleben seiner sexuellen Sucht in die Enge getrieben. Es kommt zu harten Auseinandersetzungen der Geschwister, die in einem Selbstmordversuch Sissy’s enden – Brandon kann sie gerade noch retten. Der Schluss bleibt offen.
Der britische Regisseur Steve McQueen (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, amerikanischen Schauspieler-Legende!), von der bildenden Kunst herkommend, beindruckte 2008 mit seinem ersten Film „Hunger“, einem harten Drama über den Hungerstreik des IRA-Aktivisten Bobby Sands – ebenfalls mit Michael Fassbender in der dominierenden Hauptrolle, wie auch jetzt in McQueen’s zweitem Film „Shame“. Wie „Hunger“ wirkt auch das neues Werk irritierend – sowohl was die Story wie auch ihre filmische Ästhetik betrifft.
Dieses Porträt eines intelligenten Mannes, der jede festere oder tiefergehende Beziehung scheut, dafür süchtig nach häufiger und schneller Befriedigung mit wechselnden Personen (fast ausschliesslich Frauen) ist – ohne dass dabei der moralische Zeigefinger zu erhoben wird – bricht total mit dem immer noch (oft unterschwellig) akzeptierten Sexualverhalten der überwiegend christlich geprägten, westlichen Gesellschaft. (Nicht von ungefähr ist diese Story nur in solchen ‚anonymen‘ Gross-Städten wie New York glaubwürdig).
Steve McQueen schildert Brandons Geschichte in einem betont ruhigen, langsamen Stil – ganz im Gegensatz zu den wilden Schnitt-Orgien des gegenwärtigen Mainstreams. In den Schlüssselszenen hält die Kamera das Bild viele Minuten lang starr fest: beispielsweise wenn Sissy als Sängerin im Club über den Dächern Manhattn’s (in Grossaufnahme) die Sinatra-Hymne auf New York in einem extrem langsamen Tempo singt, oder wenn Brandon eine schwarze Kollegin zum Essen in ein Restaurant einlädt und die beiden, jetzt in unbewegtem Halbnah, einen schier endlosen (wenn auch amüsanten) Small-Talk pflegen.
Wirkungsvoller Kontrast dazu sind ausgedehnte, gleitende Kamerafahrten, die Brandon beim Jogging oder auf der Suche nach Sex durch das nächtliche New York begleiten. Auch die Ton-Spur des Film klingt raffiniert ausgesucht: mal dramatische, tiefe Streicherklänge des Orchesters, mal zarte Cembalo-Klänge von Bach, aber auch stumme Szenen, in denen nur leise Alltags-Geräusche zu hören sind.
Michael Fassbender vermeidet beeindruckend alle aufgesetzte Schauspielerei: allein seine leisen, nervösen Bewegungen, die grossen dunklen Augen lassen ahnen, was in diesem Mann vorgehen könnte: seine innere Einsamkeit, sein Leiden an der (geistigen) Leere seines gegenwärtigen Lebens. Auch Carey Mulligen als seine ihn nervende, unbefriedigt-unglückliche Schwester Sissy überzeugt in ihrer quirligen und verletzlichen Präsenz.
Kein Kino für zwei schöne Stunden, auch kein chic verbrämter Porno für Voyeure – sondern der bis ins letzte Bild ausgefeilte, klug durchdachte Film eines Künstlers: verstörend und intensiv zugleich.

Foto/Poster: Prokino Filmverleih

zu sehen: CineStar Sony Center (OV); Hackesche Höfe Kino (OmU); International (OmU); Odeon (OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; Delphi; Kino in der Kulturbrauerei; Neues Off, Neukölln