Von deutscher Seele: ‚Dionysos‘ in der Staatsoper im Schillertheater****

„Eine Opernphantasie“ nennt der Komponist Wolfgang Rihm (60) sein jüngstes dramatisches Werk, das als Ko-Produktion mit Amsterdam und Berlin bei den Salzburger Festspielen 2010 eine erfolgreiche Uraufführung erlebte. Diese Salzburger Produktion in der Regie des Amsterdamer Intendanten Pierre Audi, den Bühnenbildern von Jonathan Meese und unter der musikalischen Leitung von Ingo Metzmacher wird nun für (zunächst) vier Vorstellungen innerhalb des ‚Festivals für Neues Musiktheater INFEKTION!‘ im Schillertheater aufgeführt – diesmal mit Chor und Orchester der Berliner Staatsoper und einem neuen Sänger in der männlichen Hauptrolle.
Rihm hat aus den späten Dionysos-Dithyramben von Friedrich Nietzsche eine Art Text-Collage zusammengestellt und sie in vier grosse Szenen gegliedert, deren Hintergrund auf biographische Details im Leben des deutschen Philosophen anspielen. Es ist aber kein vertontes Bio-Pic – was auch nie beabsichtigt war – , sondern es sind gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Prozess der künstlerischen Kreativität, den Schwierigkeiten des Denkenden mit dem realen Lebens, der Suche nach seinem Sinn oder zumindest nach einer ‚Wahrheit‘.
Dass ein solch intellektueller Text jedoch zu einem spannenden Musikdrama wird, verdankt er der ungemein expressiven, vielfarbigen, fast rauschhaften Musik Rihms und einer ebenso intelligent inszenierten wie fabelhaft musizierten Aufführung.
Der Berliner Künstler Jonathan Meese hat grob stilisierte, aber leicht bewegliche Kulissenteile entworfen: ein begehbarer Hügel für den (schweizer) See, auf dem die Hauptfigur Nietzsche (im Text nur ‚N.‘ genannt) die griechischen Königstochter Ariadne halluziniert; eine schattenwerfende, steile Leiter für eine gefährliche Kletterpartie in den Alpen; ein Bordell aus sich drehenden Ballon-Kugeln mit gleich vier ‚Esmeraldas‘, die N. mit der Syphilis anstecken; eine riesige, grelle  Gesichtsfratze für den Auftritt des Apollon und für die Häutung des N.; kartonartige ‚Häuser‘ und ein mit breitem Pinsel auf die Rückwand gemaltes Pferd für die letzte Szene im italienischen Turin.
Regisseur Pierre Audi führt die von Jorge Jara elegant kostümierten Sänger geschickt und – so weit möglich – die gesungenen Philosophen-Worte verdeulichend durch die phantastisch-bunte Kulissenwelt. Georg Nigl verkörpert mit geschmeidigem Bariton eindringlich den nach Lebenssinn suchenden N., Matthias Kling ist – im weissen Sommeranzug – der apollinische, tenorale Gegenspieler. In vielen Gestalten und Kostümen darf sich Mojca Erdmann zwischen die beiden Männer stellen: eine virtuose Koloratur-Sopranistin und eine erotische Zwitscher-Maschine zugleich.
Die Musik von Wolfgang Rihm zitiert -indirekt- viel Opergeschichtliches: immer wieder treten drei Nymphen oder Wagner’sche ‚Rheintöchter‘ in unterschiedlichem (Klang-)Gewand auf, erinnern breit und süffig aufrauschende Orchester-Passagen an Richard Strauss. Kräftige Dissonanzen wechseln mit zarten Lyrismen: Holz-, Blechbläser und Schlagwerk grundieren eine ausdrucksstarke und zugleich sehr sinnliche Tonsprache. Ingo Metzmacher dirigiert souverän.
Sicherlich das bisher attraktivste Bühnenwerk von Wolfgang Rihm, das – obwohl gelegentlich intellektuell versmokt – breite Publikumsschichten ansprechen dürfte: zumindest in einer solch opulenten Inszenierung.

Foto: Ruth Walz/Staatsoper Berlin

Vorstellungen: 08.(Premiere)/10./13./15.Juli 2012