Klang-Magie:’Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘ in der Deutschen Oper****

Auch in der zweiten Vorstellung nach der ausverkauften Premiere (am letzten Samstag): lange Schlangen vor den Abendkassen und ein volles Haus. Nur wenige Leute verliessen während der zweistündigen, pausenlosen Aufführung den Raum, am Ende grosser und zustimmender Applaus für das gesamte Ensemble. Und dies bei einer zeitgenössischen Oper, die auf eine nachvollziehbare Handlung und auf fassliche Melodien total verzichtet (uraufgeführt 1997 in Hamburg). Ein Erfolg für den heute 77-jährigen Neutöner Helmut Lachenmann oder ein Coup der deutschen Feuilletons, die das Werk begeistert feiern ?
Da zur Zeit in der Deutschen Oper die Obermaschinerie erneuert wird, und deshalb die Bühne nicht benutzbar ist, wird vor dem eisernen Vorhang gespielt: der Orchestergraben und die ersten Parkettreihen sind überbaut, hier sind Dirigent und ein Grossteil des Orchesters sowie Gruppen des Chores plaziert, weitere Instrumentalisten und Chorsänger sind über den holzgetäfelten Zuschauerraum verteilt, vorwiegend in den Seitenlogen des ersten Rangs. Die Musiker spielen auf ihren traditionellen Instrumenten (ergänzt um E-Gitarre und E-Orgel), aber nicht in der gewohnten Weise: sie ‚kratzen‘ auf den Violinsaiten, sie ‚überblasen‘ die Flöten oder Fagotte, sie ‚kiecksen‘ mit ihren Blechblasinstrumenten. So entstehen ungewöhnliche Klangwolken, die den Raum einhüllen, meist in sehr zartem Piano, nur gelegentlich zu (über-)grosser Lautstärke anschwellend. Ausschliesslich mit Hilfe dieser mal flüsternden, wispernden oder auch klirrenden oder schreienden Klang-Kaskaden erzählt Helmut Lachenmann die traurige Geschichte vom Mädchen, das vergeblich seine Schwefelhölzer zu verkaufen versucht und in der kalten Winternacht erfriert. Und nur mittels dieser vielschichtig-fliesenden Klänge vermag auch der Zuhörer/Zuschauer das bekannte Märchen zu assoziieren – denn einen Text oder eine logisch-fortlaufende Handlung gibt es nicht. Zwar sind auch menschliche Stimmen eingewoben, zwei Soprane, vier Chorgruppen, doch entweder singen sie nur Tonfetzen oder (absichtlich) verstümmelte Sätze – einmal (die Philosophie des Märchens ausweitend) aus einem Brief von Gudrun Ensslin, zum andern aus einem Traktat von Leonardo da Vinci (beide im informativen Programmheft abgedruckt).
Was aber macht ein Regisseur aus dieser „Musik in Bildern“ – so der von Helmut Lachenmann selbstgewählte Untertitel?  Bisher gabe es recht unterschiedliche Visualisierungen: in Hamburg etwa durch Achim Freyer, in Stuttgart durch Peter Musbach.
In der Deutschen Oper hat sich nun der junge Inszenator David Hermann von seinem Ausstatter Christof Hetzer ein hochaufragendes, dreistöckiges Haus über dem Orchester bauen lassen: auf der ersten Etage ein bis auf einen Flügel leeres Zimmer, darin zwei junge Frauen in braven Faltenröcken ein offensichtlich schwieriges Musikstück studieren und einüben;  in der zweiten Etage sitzt (laut Programmzettel) ein Cineast, der einen alten Videofilm betrachtet, dessen verfolgte Hauptdarstellerin aber plötzlich real im Zimmer auftaucht, und in der dritten Etage findet sich links eine Art Labor für chemische (?) Tisch-Experimente, rechts eine dunkle Terrasse, auf welcher gegen Ende ein (wieder laut Besetzungszettel) ‚Nasser Onkel‘ und eine gespenstische ‚Grossmutter‘ auftauchen. Verbunden sind alle drei Stockwerke durch einen verwinkelten Licht- oder Luft-Schacht, in dem ein Mann und ein Mädchen langsam herumkriechen und auch mal – bei aufbrausenden Klang-Gewittern – einen Ringkampf in Slow-Motion anzetteln. Und erst ganz am Ende des Abends erscheint im Klavierzimmer das titelgebende Mädchen mit langen roten Haaren, melancholisch-zarte Töne auf einer japanischen Mundorgel erzeugend.
Ein Abend der Klang-Magie und rätselvoller Bilder – überragend gespielt und dargeboten von Solisten, Chor und Orchester der Deutschen Oper unter der souveränen Leitung von Lothar Zagrosek (der schon die Inszenierungen in Hamburg und Stuttgart musikalisch betreute).
Eine Oper, die keine ist oder sein will, aber Klänge, die in ihrer raffinierten Konstuktion faszinieren – szenisch und optisch aber bleiben viele Fragen offen.

Foto/Poster: Motive: Stan Hema/ Deutsche Oper Berlin

nächste Vorstellungen: 20./22./23.September 2012