Erhellend: ‚Liebe‘ von Michael Haneke*****

Ein wohlsituiertes, altes Paar in einer grossen, bürgerlichen Wohnung in Paris: Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Tritignant), beide einst mit klassischer Musik beschäftigt, beide um die 80 Jahre alt. Unerwartet erleidet Anne einen Schlaganfall, eine Operation misslingt, als halbseitig Gelähmte kommt sie im Rollstuhl nach Hause zurück und bittet ihren Mann, sie niemals wieder in ein Krankenhaus zu bringen. Georges pflegt Anne hingebungsvoll, auch gegen den Willen der gelegentlich zu Besuch aus dem Ausland kommenden Tochter Eva (Isabelle Huppert), die ihre Mutter wohl eher in einem Altenheim unterbringen würde. Ein weiterer Schlaganfall folgt, Anne vermag nicht mehr zu sprechen, stösst lediglich unartikulierte Laute aus, lässt sich nur unter schwierigen Umständen füttern und windeln. Eine rasch engagierte Pflegerin erweist sich als unsensible, grobe Frau, Georges muss sie wieder entlassen, gerät jedoch selbst an die physische und psychische Grenze seiner Kraft.
Michael Haneke erzählt diese alltägliche Geschichte ganz unsentimental und ohne jede Larmoyanz, aber zugleich voller Emphatie. Und zwar ausschliesslich mit künstlerischen Mitteln: einer raffinierten, stark elliptischen Erzählstruktur und in langen, ruhigen Einstellungen. Es gibt keine untermalende, die Emotionen des Zuschauers beeinflussende Musik, nur natürliche Alltagsgeräusche. Dennoch spielt Musik eine wichtige Rolle: Anne hat einst junge Pianisten ausgebildet – einer ihrer erfolgreichen Schüler (der Pianist Alexandre Tharaud als er selbst) kommt zu Besuch und spielt auf ihren Wunsch noch einmal eine der Beethovenschen Bagatellen: in diesen Momenten wird Anne schmerzlichst bewusst, das sie sterben wird – und sie wird keine Musik mehr anhören. Klug entgeht Haneke auch der erzählerischen Falle, zwei auschliessliche ‚Gut-Menschen‘ zu porträtieren: immer wieder zeigt er Spannungen und Verärgerung zwischen den beiden alten Menschen, vor allem Georges Verzweiflung und (teilweise) Überforderung, die sich in eingeblendeten Alpträumen kundtut oder in zwei Szenen, in denen eine Taube sich (durch den Luftschacht) in die Wohnung verirrt – und Georges vor die Alternative gestellt ist, sie frei zu lassen oder zu töten.
Michael Haneke bebildert keine Thesen oder diskutiert szenisch über Alter und Tod – er erzählt einfach eine Geschichte, wie sie sich täglich und überall ereignen kann – wenn auch jeweils unter anderen Begleitumständen.
Das Grossartige an Hanekes Film ist dabei die künstlerische Umsetzung: die intelligent-ziselierte Erzählstruktur, die delikate und diskrete Kamera (Darius Khondji) und die hochsensible Führung der exzellenten Schauspieler: all dies dient dem schnörkellosen Sichtbarmachen von etwas, das über das eindrucksvoll-bewegende Dokumentieren des körperlichen Verfalls hinausgeht: die Beschreibung menschlicher Gefühle und Empfindungen, die mit dem ebenso schlichten wie in diesem Zusammenhang verblüffendem Titel des Films umschrieben werden: „Liebe“.

Poster/Verleih: X Film

zu sehen: Hackesche Höfe Kino (OmU); Cinema Paris (OmU); Blauer Stern; Capitol Dahlem; Delphi; International; Kino in der Kulturbrauerei; Yorck; Thalia Potsdam