Zwischen Berg und Blues: ‚American Lulu‘ in der Komischen Oper ***

Der Komponist Alban Berg (1885-1935) hat seine dreiaktige Oper „Lulu“, deren Libretto er selbst nach den Dramen von Frank Wedekind gestaltete, unvollendet hinterlassen: vom Schluss-Akt existieren nur Skizzen und einige kurze Instrumental-Passagen.
Mehrere Ergänzungsversuche liegen zwar vor, doch jetzt beschritt die rennomierte, österreichische Komponistin Olga Neuwirth (geb.1968) einen ganz anderen Weg, indem sie Text und Musik zu einem neuen dritten Akt erfand. Dieser spielt im New York der 1970er Jahre und zeigt die reich gewordene Edelprostituierte Lulu, die sich in einer grossen Rückblende an ihre Vergangenheit im  – von Rassenunruhen beherrschten -  New Orleans der 1950er Jahre erinnert: dies sind dann die überarbeiteten Akte 1 und 2 der Oper von Berg.
Olga Neuwirth hat jedoch Bergs Paritur für Jazz-Orchester uminstrumentiert, auch einige neue Klänge hinzugefügt, das Libretto verkürzt und Szenen umgestellt. In den (Umbau-)Pausen dazwischen lässt sie Texte von Martin Luther King oder der Lyrikerin June Jordan sprechen. Der neue dritte, in New York spielende Akt zeigt dann eine sehr selbstbewusst gewordene Lulu und gipfelt in einer dramatischen Aussprache mit der ebenfalls ihres Wertes bewussten Eleanor (ex: Gräfin Geschwitz), die Lulus Escarpaden nicht länger dulden will und sich stolz von ihr trennt. Lulu bleibt allein zurück. Ob sie ermordet wird, ist offen.
Die Komponistin collagiert in ihrer englisch gesungenen Lulu-Version allzu Vielerlei. Musikalisch: Bergs Musik übermalt, eigene Töne, Jazz, folkloristisches Idiom (Mississippi!);  inhaltlich: feministischer Blick auf die Lulu-Figur, soziale Diskriminierung und (amerikanischen) Rassismus. Von allem etwas, raffiniert gestaltet, aber nicht zwingend oder berührend.
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, der auch Bühne und Kostüme entwarf, zeigt – mit Hilfe schwarz/weisser Video-Überblendungen – eine kühl-gläserne Welt, anspielend auf Bilder von Edward Hopper, in der sich grau-bemäntelte Männer flink und anonym durch die jeweiligen Szenen bewegen. Im Mittelpunkt zwei farbige Sängerdarstellerinnen: Marisol Montalvo – eine schlanke, elegante Lulu je nachdem im schmalen weissen Abendkleid, im knappen Pailletten-Bikini mit Federboa oder im grau-seidenen Hosen-Anzug: überzeugend durch klare Gesangslinie und perlende Koloratur. Als attraktiver Gegenpart profiliert sich Della Miles als Eleanor mit Afro-Look-Perücke und einer rauchigen, blues- gesättigten Stimme. Die Männer bleiben – wenn auch stimmlich präsent – als Personen eher blass: Claudio Otelli als Dr.Bloom (Dr.Schön), Rolf Romei als Jimmy (Alwa) oder der bass-brummige Farbige Jacques-Greg Belobo in der Rolle des Clarence (Schigolch).
Die Verpflanzung des europäischen Mythos Lulu in eine amerikanische Umgebung: ein interessanter Versuch – aber nicht ganz überzeugend. Dass jedoch im Haus in der Behrenstrasse in der (englichen) Originalsprache gesungen wird, kommt einer kleinen Revolution gleich – und dies bei einer ursprünglich deutschen Oper : eine hübsche Pointe.

Foto:Gunnar Geller/Gestaltung:Blotto Design/Komische Oper Berlin
nächste Vorstellungen:10.Oktober/ 06.und 17.November

2012