Starke Charaktere, schwache Story: ‚Der Geschmack von Rost und Knochen‘ von Jacques Audiard***

Der arbeitslose Ali fährt mit seinem kleinen Sohn Sam von Nordfrankreich an die Cote d’Azur. Im Zug klauben sie sich die von Fahrgästen übriggelassenen Reste zum Essen zusammen. Unterkunft finden der junge Vater und sein Sohn im Ferienparadis Antibes, wo seine Schwester mit ihrem Ehemann in bescheidenen Verhältnissen lebt und als Kassiererin in einem Supermarkt arbeitet. Ali verdingt sich zunächt als Türsteher in einer Disco, dann als Security-Wachmann. Durch Zufall lernt er Stephanie kennen, eine Trainerin von Okrawalen, die – kurz darauf – bei einem Unglück in der Tier-Show beide Beine (bis zum Oberschenkel) verliert. Ali hilft ihr – etwas unsensibel, aber spontan und offen – bei der Wiedereingliederung ins Leben: führt sie auf der Prommenade aus, trägt sie unter den Blicken der erstaunten Badegäste zum Schwimmen ins Meer, bietet auch – direkt und ohne Hintergedanken – ihr sexuelle Wiederbelebung an. Eine ganz unsentimentale Liebesgeschichte entwickelt sich – Alis oft ruppigem Verhalten zum Trotz. Gleichzeitig verdient Ali einiges Geld durch Mitwirkung bei nicht ganz legalen, aber gut bezahlten Ringkämpfen unter offensichtlich arabisch-stämmigen Machos. Er lässt sich damit zum Boxer ausbilden und baut mit einem zwielichtigen Kumpel ganz naiv Überwachungskameras im Supermarkt ein, um die Angestellter der Firma zu bespitzeln. Eines der ersten Opfer wird seine Schwester, die gelegentlich Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen waren, mit nach Hause nahm – ihre fristlose Entlassung folgt prompt. Sie wirft daraufhin ihren Bruder aus der gemeinsamen Wohnung und Ali kehrt mit dem kleinen Sohn in den Norden zurück. Bei einem winterlichen Ausflug bricht das Kind auf einem zugefrorenen See ein, mit blossen Fäuste gelingt es jedoch Ali, das Kind zu retten, doch die tiefen Handverletzungen machen seine weitere Box-Karriere fraglich. Die inzwischen auf Protesen laufende Stephanie kommt aus Antibes angereist, versöhnt sich mit Ali (der sie inzwischen mit anderen Frauen ‚betrogen‘ hat) – doch bleibt bei seinem unberechenbarem Charakter die Zukunft offen.
Diese grobe Nacherzählung zeigt, dass mehrere Geschichten und Motive, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, hier verknüpft werden sollen. Das geschieht zwar sehr geschickt mit raffinierten und einprägsamen, filmischen Bildern, vermag aber im Ergebnis die disparaten und nebeneinander herlaufenden Handlungsfäden nicht zusammenzuschweissen und inhaltlich zu einer geschlossenen, aber vielschichtigen Erzählung zu verdichten. Alles bleibt – durchaus packende – szenische Oberfläche, eine zweite oder tiefere Ebene öffnet sich nicht.
Seine Stärke beweist Regisseur Jacques Audiard dagegen in der klugen und differenzierten Schilderung der unterschiedlichen Charaktere. Etwa die durch den tragischen Unfall beinamputierten Stephanie, ihre Verzweiflung über ihre unverschuldete Lage und die trüben Zukunftsaussichten, am Rande der Gesellschaft leben zu müssen, sowie die ganz allmähliche Wiedergewinnung ihres Lebenswillens durch die Liebe zu Ali.  Oder der fast tumbe Kraftmensch Ali, rücksichtslos und gutherzig zugleich, brutal, selbstbezogen, aber voll tiefer, unbewusst seine Gefühlswelt bestimmender Zuneigung zu Stephanie oder seinem Sohn. Aber auch die Nebenfiguren gelingen dem Regisseur und den Schauspielern als einprägsame und überzeugende Porträts.
Gefilmt in einer gelungenen Mischung aus dokumentarischem Realismus, abstahierenden Bild-Sequenzen und poetischen Metaphern.
Ein Kino, das die physische Körperlichkeit der Darsteller als Ausdruck ihrer inneren Befindlichkeiten stark in den Mittelpunkt rückt – die verletzliche Schönheit der Marion Cotillard (Stephanie), die muskulöse Präsenz von Matthias Schoenaerts (Ali).
Ein Kino, dem es aber nicht gelingt seine verschiedenen Geschichten zu focusieren, und dadurch  – zumindest teilweise -  in die Nähe eines vorhersehbaren Betroffenheits-Dramas gerät.

Poster/ Verleih: Wild Bunch Germany

zu sehen: Hackesche Höfe Kino (OmU); Rollberg (OmU); Cinema Paris (dt.und OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; Filmtheater am Freidrichshain; Neues Off; Kulturbrauerei.