Tag-Träumer: ‚Oh Boy‘ von Jan Ole Gerster****

Ein melancholisch-bunter Berlin-Film, gänzlich in Schwarz/Weiss gedreht – ein Tag im Leben des Niko Fischer. Niko, Lebensalter etwa Ende Zwanzig, hat sein Jura-Studium vor einiger Zeit geschmissen und bummelt seitdem durch die Berliner Tage und Nächte, wechselt Wohnungen und Freundinnen, immer auf der Suche nach seinem Platz im Leben, in der Gesellschaft, getragen von einer melancholischen Freundlichkeit – auch wenn es wie an diesem Tag, den der Film schildert, immer wieder zu kleineren und grösseren Katastrophen kommt.
Zunächst trennt sich, verärgert über seine etwas nölige Unentschlossenheit, seine Freundin von ihm, dann verweigert der Polizei-Psychologe ihm die Rückgabe des Führerscheins wegen „emotionaler Unausgewogenheit“, ein Nachbar belästigt ihn mit wenig schmackhaften Fleischbällchen und Ehefrust und dann schluckt der Geldautomat auch noch seine EC-Karte. Als er deshalb seinen reichen Vater aufsucht, der gerade auf einem Golfplatz seine Sportlichkeit demonstriert, eröffnet ihm dieser mit herablassend-ironischer Mine, dass er durch Zufall von Nikos Studienabbruch erfahren hat und er ihm deshalb den monatlichen Scheck sperren wird.
Bei der anschliessenden Rückfahrt mit der S-Bahn wird Niko ohne Fahrschein erwischt, ein Freund nimmt ihn mit zum Dreh eines rührseligen Films über die Love-Story zwischen einem Nazis und einer Jüdin, eine ehemalige Schulkameradin läd ihn zu einer abendlichen Off-Theater-Performance ein, in der sie mitspielt, wobei es bei der anschliessenden Premierenfeier zu unangenehmen Auseinandsersetzungen kommt, samt Schlägerei und missglücktem Sex-Quickie, und dann trifft Niko noch spät in der Nacht in einer Kneipe einen alten Berliner, der erzählt, dass er in der Nazi-Progromnacht die Scheiben dieses Lokals eingeworfen hat. Als dieser Unbekannte kurz darauf zusammenbricht, fährt Niko im herbeigerufenen Notarztwagen mit und verbringt wartend die Nacht in der Charité. Als der Morgen graut, sieht man als letztes Bild, Niko nachdenklich in einer Cafébar sitzen, draussen rattert die Hochbahn vorbei…
Es ist erstaunlich wie überzeugend dem jungen Regisseur Jens Ole Gerster sein erster Langfilm gelingt: authentisch, spannend, raffiniert montiert, musikalisch stimmig untermalt und typengenau besetzt. Tom Schilling’s Niko ist ein ruhiger Softie, der mit wachen Augen seine Umgebung vorurteilslos mustert, oft zögerlich reagiert, aber – wenn’s drauf ankommt – auch Mumm beweist: das treffliche Portät eines – auch sprachlich – noch unsicheren jungen Mannes im Berlin von heute. Auch die überigen Darsteller, darunter Ulrich Noethen und Michael Gwisdek, brillieren in ihren meist kurzen Begegnungen mit Niko : Typen der Grossstadt, witzig, schräg, liebenswert oder abstossend.
Die gelegentliche Nähe zum Klischee wird geschickt umschifft und vom flotten Tempo des Films überspielt. Besonders schön: die immer wieder eingestreute Bild-Sequenzen der pulsierenden Stadt mit ihrem brausenden Verkehr und ihren leuchtenden Hochhausfasaden, die die einzelnen Episoden stimmungsvoll gliedern im Leben dieses modernen ‚Taugenichts‘.
Ein intelligenter, kleiner Film nicht nur für Berlin-Fans!

Poster/Foto: X Verleih

Filmstart war der 1.November 2012, zu sehen ist er noch täglich: Hackesche Höfe Kino; Kant-Kino;  Einzel-Termine: Casablanca; Filmtheater am Friedrichshain; Sputnik