‚Infektion!‘ – neues Musik-Theater in der Staatsoper

Der etwas kuriose Titel „Infektion!“ bezeichnet ein etwa zwei- bis dreiwöchiges Festival mit neuen Musikwerken, das die Staatsoper jeweils am Ende einer Spielzeit ansetzt. Eigen- und Ko-Produktionen werden an verschiedenen Spielstätten zur Diskussion gestellt. In diesem Jahr sind es drei aufwendige Werke im Schillertheater und der Schaubühne am Lehniner Platz („AscheMOND“,“Hanjo“,“For the disconnected Child“) und zwei kleinere Inszenierungen in der Schillerwerkstatt: „Récitations“ des griechischen Komponisten Georges Apergis sowie die Wiederaufnahme der „Europeras 3&4“ von John Cage. Das Festival dauert vom 14. bis zum Spielzeitende am 30.Juni dieses Jahres.

1. „To the disconnected Child“ (Premiere: Schaubühne, 14.6.2013)***
Libretto und Texte stammen vom Schaubühnen-Regisseur Falk Richter, der sechs noch wenig bekannte Komponisten und einen isländischen Singer/Song-Writer um Teil-Vertonungen bat. Herausgekommen ist ein gut zweistündiger Abend, der geschickt und optisch effektvoll E- und Pop-Musik mit Tanz und reinen Sprechtheater-Szenen collagiert. Ausgehend von Tschaikowsky’s Oper „Eugen Onegin“ verzweifeln Frauen über fehlende oder fehlgeschlagene Liebesbeziehungen, meiden Männer jegliche feste Bindung, wollen angeblich ihre Freiheit bewahren.
Manchmal ist es ganz witzig und grotesk, wie die heutigen Zeitgenossen erfolglos chatten oder soziale Netzwerke bemühen, oft aber bleiben die turbulenten Beziehungs-Jagden oder Fluchten nur modisch oder banal.
Gerahmt wird das bunte Wer-mit-Wem durch sentimentalen Pop, ansonsten unterlegen die Komponisten die verschiedenen Spiel-Sequenzen mit zeitgenössischer Musik, doch sie bleibt Hintergrund, fällt kaum ins Gewicht – auch nicht durch ein paar eingewobene Tschaikowsky-, Puccini- oder Schubert-Melodien (gespielt am rechten Bühnenrand von Musikern der Staatskapelle unter Leitung von Wolfram-Maria Märtig).
Regisseur Falk Richter lässt die 5 Schauspieler (Schaubühne), drei Tänzer und vier Sänger (Staatsoper) auf einer zweistöckigen, treppenverbundenen Bühne vor bunt flimmender Video-Tapete hin und her laufen, hoch und runter klettern oder Purzelbaum schlagen: so täuschen schnelles Tempo und optische Effekte fast darüber hinweg, dass sich hinter diesem bunt gefälligen Theater-Mix nur harmloser Gefühls-Kitsch verbirgt.
Weitere Vorstellungen: 17./18./20./21./23./25./29.30.Juni 2013

2. „AscheMOND oder The Fairy Queen“ (Premiere: Schillertheater, 16.6.2013)****
Uraufführung der neuen Oper des gefragten Komponisten Helmut Oehring (geb.1961 in Ost-Berlin), der eigene Texte mit solchen von Shakespeare, Stifter, Heine und allerlei Mythologischem verbindet. In enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Guth, der seinerseits Lyrisches und Biographisches aus dem kurzen Leben der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath einbrachte, entstand ein beeindruckender Musiktheater-Mix aus Sprech- und Gesangs-Partien, aus originalen Purcell-Arien und zeitgenössischen Klängen.
Ein Mann (Ulrich Mattes) kehrt nach Jahren in das leerstehende Haus seiner Eltern zurück. Beim Lesen des Tagebuchs seiner Mutter, die sich einst selbst umbrachte, erinnert er sich an seine Kindheit: die Räume der leeren Wohnung füllen sich langsam mit Möbeln und Menschen – nocheimal erlebt er Szenen aus dem Familienleben, beobachtet sich selbst als kleinen Jungen, seinen Vater (Topi Lehtipuu), die taubstumma Haushälterin (die Gebärdendolmetscherin Christina Schönfeld), vor allem aber seine damals noch junge Mutter (hervorragend: Marlies Petersen) mit ihren zunehmenden Depressionen, ihrer Flucht in die Arme eines Liebhabers (Roman Treckel) und ihren Selbstmord. Reale Szenen mischen sich dabei mit irrealen, wenn schwarz gekleidete „Feen“ oder einfach Andersartige (Staatsopern-Chor) bedrohlich in die unterschiedlichen Wohnräume eindringen und die Mutter mit düsterem Singsang oder Gebärden bedrängen. Am Schluss wirft der erwachsenen Sohn erschüttert das Tagebuch weg und verlässt schnell das Haus.
Claus Guths Regie besticht durch stringente Erzählweise und klare Personenführung. Helmut Oehrings Musik mischt raffiniert die englische Barock-Musik (besonders vortrefflich gesungen von Bejun Metha in der Rolle eines teilnahmsvollen „Freundes“ der Familie) mit athmosphärisch dichten heutigen Orchesterklängen – und ballungen, verstärkt durchelektronische Instrumente und vielelei eingespielte Geräusche. Es spielen im Orchestergraben links die ‚Akademie für Alte Musik‘ (live Leitung Benjamin Bayl, die Staatskapelle Berlin unter dem souveränen Dirigat des kurzfristig eingesprungenen Johannes Kalitzke sowie ganz rechts im Graben drei Musiker mit Solo-E-Gitarren/resp E-Kontrabass.
Ein sehr komplexes Werk, das viel Aufmerksamkeit und wohl auch einiges Vorwissen sowie Ausdauer von Zuschauer verlangt (2 Stunden 15 Minuten ohne Pause). Vielleicht auch ein bisschen überfrachtet mit seinen zahlreichen Mythologien und seiner überbordenden Metaphorik.
Weitere Vorstellungen: 19./21./23./28.Juni 2013

3. „Hanjo“ (Premiere: Schillertheater, 22.6.2013)****
Oper in einem Akt (Dauer: 80 Minuten) des renommierten japanischen Komponisten Toshio Hosokawa (geb.1955), die 2004 als Auftragswerk des Festivals in Aix-en-Provence uraufgeführt wurde. In einer Ko-Produktion mit der Ruhrtriennale 2011 hat sie nun in Berlin Premiere.
Eine junge Frau wartet täglich auf ihren Geliebten und wird darüber wahnsinnig. Eine ältere Künstlerin nimmt sie bei sich auf, bewundert die vergeistigte Schönheit der Wartenden. Als der Geliebte wider Erwarten eines Tages auftaucht, versucht die eifersüchtige Künstlerin ihn zunächst zu vertreiben, er reagiert darauf schroff und brutal, so dass die Wartende
ihn nicht mehr wiedererkennt, da sie nur ein menschlich edles Bild von ihm in ihrem Inneren bewahrt. Der Mann ertränkt sich, die beiden Frauen bleiben wie in einem erlösten Zustand beieinander.
Diese Geschichte basiert auf einem japanischen No-Spiel, das in der 1950er Jahren in ein modernes Schauspiel umgewandelt wurde und dessen englische Übersetzung dem Komponisten Toshio Hosowaka 2003 – leicht gekürzt – als Libretto diente. Realität und Traum verschmelzen zu eindringlichen Klangbildern, sanfte, zirpende Streichertöne und leise Glöckchen konstrastieren schroff mit lauten Trommel- und Bläser-Kaskaden, verweisen einerseits auf Ruhe, Natur, Glück wie andererseit auf die Brutalität menschlichen Handelns. Eine Art Sprech-Gesang ist vorherrschend, gelegentlich expressiv auffahrend.
Die Inszenierung des spanischen Regisseurs Calixto Bieito taucht den Kampf der drei Personen umeinander und ihre innere Wandlung in magisch, fahles Licht. Eisenbahnschienen führen auf einem Damm aus grobem Schotter diagonal über Bühne und Orchestergraben, rechts undd links davon ein paar Quadratmeter Rasen oder Wasser. Die Wartende balanciert im weissen Tüllröckchen und pinkfarbenen Strümpfen auf dem Geleis – mit fast blutenden Füssen. Die Künstlerin – ganz in Schwarz mit langem glatten Haar – gleicht einer Dämonin, die heftig um ihren Schützling kämpft, während der ersehnte Geliebte unter grellem Scheinwerferlicht wie eine monströse Dampflock auf dem dem Schottergleis auftaucht und mit Macho-Gebärden das Spiel an sich zu reissen versucht.
Eine raffinierte Mischung aus Hyperrealismus und magischer Stilisierung,  aus kalt-schimmernder Traumwelt und düster-menschlichen Abgründen, die am Ende jedoch in sanfter Ruhe ausklingt.
Exzellent die Musiker der Staatskapelle, die rechts und links des Schotterweges fast im Dunkel und mit künstlich gebleichtem Gesicht spielen müssen, sensibel geleitet von Günther Albers. Ihnen und den drei vorzüglichen Interpreten (Ingela Bohlin, Ursula Hesse von den Steinen, Georg Nigl) gilt der starke Applaus des Publikums.
(Vom gleichen Komponisten war 2011 im Schillertheater die Oper „Matsukaze“ in einer Inszenierung von Sasha Waltz zu sehen)
Weitere Vorstellungen: 24./30.Juni 2013