Deutschland im Vormärz: ‚Die andere Heimat‘ von Edgar Reitz****

Wenn heute grosse Flüchtlingsströme sich nach Europa aufmachen, aus wirtschaftlicher Armut oder wegen politischen Drucks, dann sind das die gleichen Motive, die viele Bewohner Deutschlands im 19.Jahrhundert zur Auswanderung in das damals gelobte Land ‚Amerika‘ zwangen. Vor diesem sozial-politischen Hintergrund schlägt der – inzwischen 81-jährige -  Regisseur Edgar Reitz ein neues Kapitel seiner ebenso erfolgreichen wie populären Film-Serie „Heimat“ auf. Bisher spielten alle Geschichten um die Bewohner des fiktive Hundsrück-Dorfes Schabbach im 20.Jahrhundert, zeigten die Auswirkungen von Nazi-Zeit, Weltkrieg, Mauerbau und Wiedervereinigung auf deren normalen Alltag. Jetzt schildert Reitz sozusagen die historische Vorgeschichte.
Im Mittelpunkt steht der junge Jakob Adam Simon, der davon träumt, nach Brasilien auszuwandern, ein Land, über das er sich in vielen Bücher vor allem wissenschaftlich informiert – zum Verdruss seines strengen Vaters, des dörflichen Schmiedemeisters. Sprachbegabt erlernt Jakob als Autodidakt nicht nur Spanisch, Portugiesisch oder Englisch, sondern er beherrscht auf diese Weise auch die Sprachen vieler südamerikanischer Indianer. Doch sein Traum erfüllt sich nicht, Jakob muss – besonders als sich sein älterer Bruder und die geliebte Schwägerin den auswandernden Freunden anschliessen – die alt und schwach werdenden Eltern unterstützen, Haus und Schmiede-Werkstatt – so gut es geht – betreuen. Am Ende erhält er – inzwischen verheiratet – einen Brief des Bruders, der schildert, dass auch Brasilien kein Land ist, in dem Milch und Honig fliessen, sondern die Ausgewanderten hart und nicht immer erfolgreich um ihr Dasein und ihren Unterhalt kämpfen müssen.
Edgar Reitz und sein Drehbuchautor Gert Heidenreich entfalten in üppigen Schwarz-Weiss-Bildern – nur gelegentlich mit ein paar Farbtupfer versehen – ein fast umfassendes Panorama der Vormärz-Jahre in einer ländlichen, deutschen Provinz.  Karges Leben, Krankheiten, Hunger, Tod, Gewalt durch Natur und Staat, Kindersterblichkeit, religiöse Intolleranz beherrschen den Alltag der Bauern und Handwerker. Nur kurze Freuden wie eine ausgelassene Kirmes, eine feierliche Hochzeit, schüchterne Jugend-Flirts oder schneller Sex hinter dunklen Mauern hellen das Leben ein wenig auf. Doch der Film badet nicht in Elendsbildern als Selbstzweck, sondern zeigt -  mal nüchtern-realistisch, mal poetisch-überhöhend -  die Geschichten von Menschen, die versuchen ihr Leben auf die bestmöglichste Weise zu meistern. Die ihr Glück nicht nur in äusseren Dingen suchen, sondern in innere Zufriedenheit. Das dies oft nur eingeschränkt möglich war, zeigt diese „Chronik einer Sehnsucht“, wie der Untertitel lautet.
Filmisch von hoher Qualität – eindrucksvoll die ruhig gleitende Kamera mit ihren stimmungsvollen Landschafts-Panoramen; ein gut ausgewähltes, mundartlich artikulierendes Schauspieler-Ensemble, eine bis ins kleinste Detail sorgfältig realisierte Ausstattung. Einziger Einwand: dass trotz aller Raffinesse der Inszenierung immer wieder das dramaturgisch Konstruierte, die aufkärerisch-didaktische Absicht der Filmerzählung zu deutlich sichtbar sind – fast alles vorhersehbar ist und nur wenig Überraschendes passiert.
Das 230 Minuten lange Epos wird so – besonders in der zweiten Hälfte – sehr episch!

Foto/Poster: Concorde Filmverleih GmbH
zu sehen: Capitol Dahlem; CinemaxX am Potsdamer Platz; Delphi; Hackesche Höfe Kino; International; Kant-Kino; Passage Neukölln