Gefühle, hautnah: ‚Blau ist eine warme Farbe‘ von Abdellatif Kechiche****

Der Titel des französischen Originals lautet: „La vie d’Adèle, Chapitres 1&2“.
Kapitel 1 schildert, wie die zunächst 15-jährige Adele, Schülerin in einem Gymnasium in Lille, eine ihr zunächst unverständliche Neigung zu der etwas älteren Kunststudentin Emma entdeckt; wie sie nach einem nicht befriedigenden Abenteuer mit einem Mitschüler sich zu ihrer ungewöhlichen Leidenschaft bekennt, allen agressiven Beschimpfungen ihrer Freundinnen zum Trotz, und wie sie nach ihrem Abitur zu Emma in deren Wohnung zieht. Im 2.Kapitel ist Adele – ihrem Berufswunsch entsprechend – Kindergärtnerin und Grundschul-Lehrerin geworden, lebt immer noch mit Emma zusammen, die sich inzwischen als aufstrebende Künstlerin etabliert. Doch die Beziehung wird langsam brüchig, zumal Adele mit dem intellektuellen Freundes- und Galeristen-Kreis ihrer Lebenspartnerin nicht viel anzufangen weiss. Innerlich unbefriedigt und enttäuscht lässt Adele sich auf eine kurze Sex-Affaire mit einem Kollegen ein, worauf Emma sie brutal aus der Wohnung wirft. Einsame Zeiten für Adele folgen, gelegentliche One-Night-Stands bleiben unbefriedigend, der Versuch der beiden Frauen, nach Monaten die alte Beziehung wiederaufzunehem, scheitert. In der letzten Szene besucht Adele Emmas Vernissage in einer angesagten Galerie, aber ausser freundlichen Worten hat man sich nichts mehr zu sagen. Adele verlässt den Raum, geht einsam die Strasse nach Hause zurück.
Diese Geschichte einer Liebesleidenschaft filmt der französische Regisseur tunesischer Abkunft, Abdellatif Kechiche, ganz aus der Sicht Adeles. Und zwar fast ausschliesslich in Nah- und Gross-Aufnahmen ihres Gesichtes, aber auch die übrigen Personen zeigt die ruhige, aber zugleich sehr bewegliche Kamera (Sofian El Fani) überwiegend aus nächster Nähe. Blicke, Regungen des Gesichtes und (meist beiläufige) Worte oder Satzfetzen werden zu einer grossflächigen, filmischen  Gefühls- Landschaft. Das soziale Umfeld oder das Thema Homosexualität bilden nur den folienartigen, wenn auch lebhaften Hintergrund für die tiefgreifenden Emotionen und sexuellen Leidenschaften Adeles. Erst im letzten Drittel werden die sozialen Verhältnisse, geistigen Interessen und Bildung als lebensbestimmende Faktoren für das persönliche Schicksal der beiden Frauen stärker betont und und als solche erkennbar.
Die  sehr ausführliche und insistierende Erzählweise des 3-stündigen Werkes ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack. Gelegentlich scheint sich der Regisseur auch in Klischees zu verheddern, wenn beispielsweise gehobene Bürger immer Austern schlürfen müssen, Arbeiterfamilien dagegen Spaghetti Bolognese. Und die Galeristen-Freunde sind hier so intellektuell versnobt und verzickt, wie sie sonst nur in Durchschnitts-Filmen vorgeführt werden.
Getragen wird diese stark sexuell geprägte – und durch den Regisseur auch so visualisierte – Liebesgeschichte durch das offene Gesicht der jungen Schauspielerin Adèle Exarchopoulos: grosse Augen, etwas pausbäckig, halboffener Schmollmund, wach und naiv zugleich. Ansteckend strahlt und lacht  sie vor Glück, kann aber auch – noch ganz kindlich -  mitleiderregend Rotz und Wasser heulen. Die direkte, sinnliche Ausstrahlung dieses Gesichtes, aber auch ihres gesamten Körpers, trägt den Film und verleiht ihm eine aussergewöhnliche Intensität. Lea Seydoux als Emma, zunächst mit blau gefärbtem Kurzhaarschnitt (Kapitel 1), später natur-blond (Kapitel 2), wirkt in ihrer Rolle als dominierende, geistig überlegene Künstlerin herber, konventioneller, dennoch bleibt auch sie immer sinnlich präsent und glaubhaft.
Dass dieses „Leben der Adele“ für so viel Aufmerksamkeit sorgt(e), liegt sichlich zum Teil an den breit ausgespielten, direkten Sex-Szenen einer lesbischen Leidenschaft – obwohl ihnen jeder voyeuristische Anreiz fehlt – , zum anderen Teil aber auch an den unterschiedlichen Vorwürfen, die – berechtigt oder unberechtigt – dem Regisseurs von Seiten seiner Film-Crew nachträglich gemacht wurden. Beim Festival in Cannes 2013 erhielt der dort uraufgeführte Film – bejubelt von Publikum und Kritik – die „Goldene Palme“ – überreicht von einem begeisterten Jurypräsidenten namens Steven Spielberg.

P.S. Der Film ist eine freie Adaption der graphischen Novelle „Blau ist eine warme Farbe“ (Bleu est une couleur chaude) von Julie Maroh – daher der Titel der deutschen Synchron-Fassung.

Poster/Verleih: Alamode Film

zu sehen: Hackesche Höfe Kino (OmU); Neus Off (OmU); Cinema Paris (OmU und dt.Fassung);CinemaxX Potsdamer Platz;Filmtheater am Friedrichshain; Kino in der Kulturbrauerei; Passage Neukölln