Wut im Bauch: ‚A Touch of sin‘ von Jia Zhang-ke****

Vier Geschichten aus dem chinesischen Alltag von heute, vier Geschichten von Bürgern, die gedemütigt oder unterdrückt werden und die sich wehren – blutig und sinnlos.
In einem Industiegebiet im Norden prangert ein Minen-Arbeiter Korruption und Ungerechtigkeit des Bürgermeisters und des smarten Werkbesitzers an; er wird brutal mit einem Golfschläger niedergeknüppelt und übt daraufhin grausame Rache – mit seiner Schrotflinte.
Ein Wanderarbeiter, der – ihm auflauernde – jugendliche Wegelagerer kaltblütig erschiesst und anschliessend seine Familie zum Neujahrsfest kurz besucht, raubt in der Stadt geschickt die wohlhabende Kundin einer Bank aus, indem er ihr die gerade gefüllte Geldtasche entreisst und in der Menschenmenge untertaucht.
Die Empfangs-Dame einer Mitternachts-Sauna wird von Kunden belästigt und grundlos geschlagen, worauf diese ein Messer zückt und sich blutig wehrt.
Ein junger Arbeiter verursacht durch Unachtsamkeit einen Unfall in der Nähfabrik, in der er arbeitet, und muss dafür finanziell gerade stehen; er geht nach Süden, wird Kellner in einem Luxus-Puff für reiche Touristen, verliebt sich in eine Kollegin, die in wechselnden Verkleidungen die männlichen Gäste bedienen muss, doch das zarte Glück scheitert rasch an den sozialen Umständen. Der junge Mann zieht weiter, arbeitet für karges Geld in einem Elektronik-Betrieb, wird mit vielen anderen jungen Arbeitern in einer riesigen, tristen Beton-Mietskaserne untergebracht – und stürtzt sich vom Balkon in den Tod.
Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke, 44 Jahr alt, aus dem Norden stammend, in Peking an der Kunstakademie ausgebildet, dreht seit 1995 Dokumentar- und Spielfilme, die geschult sind am Neorealismus italienischer Prägung; aber auch das japanische Kino hat Einflüsse auf seine Ästhetik. 2006 erhielt er den ‚Goldenen Löwen‘ in Venedig für „Still Life“, bedrückende Geschichtem um den Bau des riesigen Drei-Schluchten-Staudamms und dem dadurch bedingten Überfluten von Orten und Lebensräumen vieler Menschen.
Auch „A Touch of sin“ (Tian Zhu Ding) schildert krass und realistisch den Alltag im heutigen China – einem China der wirtschaftlichen Öffnung und Angleichung an westliche Zivilisation-Vorstellungen. Doch wird dieses China nach wie vor von der alten Kaste der kommunistischen Partei regiert und unterdrückt, ergänzt um Neo-Kapitalisten, die dank des wirtschaftlichen Aufschwungs reich und mächtig geworden sind. Die  – nur sehr lose miteinander verbundenen -  Episoden zeigen einfache Leute und wie sie durch den sozialen und gesellschaftlichen Umbruch aus der Bahn geworfen werden, und mit ihren religiösen und moralischen Vorstellungen oder Traditionen nicht mehr zurecht kommen.
Der Film findet dafür zahlreiche – ebenso reale wie poetische -  Bilder:  ein Pferd, vor einen Karren gespannt und brutal ausgepeitscht;  die Sauna-Angestellte, die mit dicken Geldscheinbündeln roh geschlagen wird; der Wanderarbeiter, der rituell zu den Geistern betet und gleichzeitig kalt jugendliche Räuber erschiesst; Bilder von riesigen Menschenmassen in Bahnhöfen, Omnibusstationen oder Beton-Silos, gigantische Industieanlagen, die die Luft verpesten, Reste alter Tempel, Buddah- oder Mao-Statuen, sogar ein kitschig-christliches Madonnen-Porträt verirrt sich dazwischen.
(Kamera: Nelson Yu Lik-wai).

Grandios jedoch wie die realistischen Szenen ins Surreale gesteigert werden, ohne dabei ihre Wahrheit zu unterlaufen – Bilder als Kino-Zitate: die sich wehrende Sauna-Angestellte scheint einem Martial-Art-Film entsprungen, der schiessende Wanderarbeiter einem Western. Immer wieder  begegnen die durch alle Regionen Chinas reisenden und fahrenden Personen  den traditionellen, chinesischen Wander-Theatern mit ihren ebenso kunstvollen wie künstlichen Musik- und Akrobatik-Darbietungen -  auch dies belebender Kontrast und Überhöhung der Wirklichkeit zugleich.
Musik wird sehr sparsam eingesetzt: Natur- und Alltags-Geräusche, Töne aus öffentlichen Lautsprechern, aus Radio und Fernsehn, aber auch klassisch-chinesische oder
Pop-Musik.
Der Film wird hier zu einem magisch-realistischen Kosmos des riesigen Landes – der fast jedes gesellschfts-kritische Thema anpackt, böse und pessimistisch, der aber auch viel Emphatie für seine Personen aufbringt – ohne sie zu heroisieren oder deren Handeln zu billigen.

Kino, in dem schonungloser Realismus und filmische Phantasie wunderbar ausbalanciert sind – vielschichtig, erhellend, faszinierend –
und: ein Kunstwerk, das die chinesischen Zensur (bisher) erfolgreich passiert hat.

Foto/Poster: Rapid Eye Movies

zu sehen: Babylon Mitte/ Brotfabrik/ Eiszeit/ fsk/ Lichtblick-Kino (alle OmU)