Ist Ballett noch modern?: ‚Ratmansky/Welch‘ – Das Staatsballett im Schillertheater****

Der rote Faden des neuen Abends, den die Dramaturgie des Staatsballetts im Programmbuch ausführlich darlegt, soll verdeutlichen, wie der klassisch-akademische Tanz (russischer Herkunft) sich in den USA über den Neoklassizismus eines Georges Balanchine zum „Contemporary Ballet“ des 21.Jahrhunderts entwickelte. Zwei der zur Zeit prominentesten, amerikanischen Choreographen wurden eingeladen je eines ihrer Werke mit dem hiesigen Ensemble als deutsche Erstaufführung einzustudieren.
Zuerst: Stanton Welch, gebürtiger Australier und gegenwärtig Chef des ‚Houston Ballet‘ (der viertgrössten US-Balllet-Compagny) zeigt seine abstrakte Arbeit „Clear“, die er 2001 kurz nach der Katastrophe vom 11.September für das American Ballet Theater (ABT) erarbeitete. Dieser zufällige, historische Hintergrund spielte bei der Uraufführung in New York eine wichtige Rolle, dem heutigen europäischen Zuschauer erschliesst er sich jedoch kaum. Denn Welch lässt sieben Männer (darunter ein sehr ernster Vladimir Malakhov) und eine einzelne Ballerina in hautfarbenen Hosen ein stark stilisiertes und als solches kaum wahrnehmbares Requiem tänzerisch eindrucksvoll und brillant umsetzen – zu von der Staatskapelle live gespielten Violinkonzerten von Johann Sebastian Bach. Gesten der Trauer und melancholische Momente wechseln mit temporeichen, stark stilisierten Bewegungs-Sequenzen in unterschiedlichen Gruppierungen ab. Zunächst vor einem golden leuchtenden Hintergrund, der sich jedoch langsam immer mehr eindunkelt, bis am Ende tiefe Schwärze herrscht und nur noch Elisa Carillo Cabrera und Marian Walter als einzelnes Paar in einen Lichtkegel eng umschlungen zu sehen sind. „Was bleibt?“, fragt Stanton Welch, „Liebe und Familie“ ist seine – amerikanisch optimistische – Antwort.
Konträr dazu das zweite Stück des Abends: „Namouna“ von Alexei Ratmansky, im Frühjahr 2010 für das New York City Ballet kreiert. Ratmansky, in St.Petersburg geboren, von 2004 bis 2008 Leiter des Moskauer Bolschoi-Balletts und seit 2009 in den USA tätig, griff auf ein heute kaum bekanntes Handlungsballett von Eduard Lalo (Paris 1882) zurück und gestaltete daraus ein fast einstündiges „Grosses Divertissement“. Auf Handlung wird verzichtet, aber mit den Standart-Figuren solcher Ballette ein ironisches Spiel getrieben. Der blonde Prinz steckt hier im weissen Matrosenanzug, umschmeichelt wird er von einem grossen Ensemble eleganter Damen, die in schwarzen Bubi-Kopf-Perücken und fliessend-langen, zitronengelben Gewändern ihn wie einst die Bajaderen in raffinierter Chorus-Line umschwirren, bis eine aparte Schöne mit weiss-geraffelter Bade-Kappe ihn ketten-rauchend verführt. Ein scharfe Herren-Truppe in stahl-grauen Trikots und eine paar komisch-drollige Figuren mischen den abstrakten Tanz-Bilder-Bogen temperamentvoll auf. Ein viruoses Spiel mit den Formen und Figuren des klassischen Balletts, erweitert um Bewegungen anderer Tanzstile des 20.Jahrhunderts, aber ohne je die akademische Grundlage aufzugeben.
Erstaunlich der Formen-Vielfalt der Choreographie, vergnüglich die Gewitztheit, mit der die Berliner Tänzer, darunter Nadja Saidakowa, Rainer Krenstetter und Elena Pris, ihre typisierten Rollen ironisch vorführen, bestaunenswert der raffinierte Schnitt und die delikaten Farben der phantasievollen Tanz-Kostüme (Rustan Kamdamov/Marc Happel).
Ein ebenso unterhaltsames wie komplexes Vergnügen – und ein Abend, der zeigt wie in den USA der oft als erstarrt bewertete, klassische Kanon erfolgreich in zeitgenössisches Ballett weiterentwickelt werden kann – choreographische Phantasie natürlich vorausgesetzt!

Foto (aus Ratmansky): Bettina Stöß/Staatsballett Berlin

nächste Vorstellungen: 30.März/4./5./8./21.April 2014