Barock ohne Schnörkel: ‚Castor et Pollux‘ in der Komischen Oper****

Die italienische Barock-Oper vollzieht seit einigen Jahrzehnten – dank der sogenannten „Historischen Aufführungspraxis“ – einen Triumphzug sondergleichen auf allen Bühnen der Welt. Das französische Gegenstück, die „Tragedie“- oder „Comedie en musique“ wird demgegenüber (ausser in Frankreich) nur selten gespielt. Was natürlich in erster Linie mit ihrer musikalischen Struktur zu tun hat: statt aussladender, populärer Arien für vituose Gesangsstars, eine eng verknüpfte, dramatisch-fortlaufende Abfolge von Arien, Ensemblestücken und instrumentanlen Einlagen (Ballette). Insofern leistet die Komische Oper Pionier-Arbeit, indem sie erstmals in ihrer Geschichte in eine „Tragédie lyrique“ (in französischer Sprache!) vorstellt: „Castor et Pollux“ von Jean-Philippe Rameau.
Allerdings ein abgesichertes Wagnis: die Inszenierung des Intendanten Barrie Kosky, 2011 für London erarbeitet, war sehr erfolgreich und erhielt dort den renommierten Laurence-Olivier-Theaterpreis. Auch der Neu-Einstudierung an der Komischen Oper dürfte – nach dem herzlichen Premierenbeifall zu urteilen – ein ähnlicher Erfolg beschieden sein.
Die Geschichte der unzertrennlichen Brüder Castor und Pollux entstammt der griechischen Sagenwelt. Beide Brüder, von denen nur Pollux göttlicher Abstammung ist, lieben dieselbe Frau, Télaire; doch deren eifersüchtige Schwester Phébé zettelt eine Intrige an, in deren Folge Castor erschlagen wird. Pollux kann ihn unter grossen Mühen wieder aus der Unterwelt befreien, allerdings nur durch den Verlust seiner göttlichen Abstammung (d.h. er muss in der Unterwelt bleiben). Am Ende erlöst zwar Gottvater Jupiter die beiden Brüder, indem er beide mit sich in den Olymp nimmt, doch deren geliebte Télaire bleibt – ebenso wie ihre Schwester Phébé – in Verzweiflung zurück.
Barrie Kosky verzichtet in seiner klugen Inszenierung auf alle barocken Theaterzaubereien. Die Bühne ist ein schmuckloser Holzkasten, ohne Türen und Fenster, nur die sich hebende und senkende Hinterwand gestattet die diversen Auftritte oder Abgänge der Personen. Alle tragen einfache Kostüme, schlichte, heutige Alltags-Kleider oder Anzüge, in dezenten Farben (Ausstattung: Katrin Lea Tag). Die Rameau’schen Ballett-Einschübe nutzt Kosky, um die einzelnen Personen und ihr Handeln durch Bewegungsabläufe zu charakterisieren, sei’s dass die verzweifelt Liebenden sich wild gegen die Wände werfen, vergeblich einen Ausweg aus dem geschlossenen Raum suchen, sei’s dass der Chor mit fröhlichem Ringeltanz eine Hochzeit feiert, oder in grandios choreographierten Kampf-Szenen sich prügelt (ein fast perfekte Wrestler-Show). Natürlich treten auch ein lustiger Merkur im mausgrauen Anzug und mit weissen, auf- und zuklappenden Flügelchen auf, greift Jupiter als ein Riese mit schwarzen Schleier vorm Gesicht ins dramatische Geschehen ein. Doch im Zentrum stehen die inneren Beweg- und Abgründe der unglücklichen Liebesbeziehungen. Kosky erzählt keine mythisch-historische Fabel, sondern zeigt in einfachen (wenn auch nicht immer sofort einsichtigen) Theater-Bildern, wie vier moderne Personen sich unbesonnen und leidvoll immer tiefer in ihren Gefühlen verstricken und sich so selbst ein glückliches Leben oder Schicksal verbauen.
Das Orchestergraben ist hochgefahren, die mit barocker Musik inzwischen sehr vertrauten Instrumentalisten und ihr (aus England kommender) temperamentvoller Dirigent Christian Curnyn sind gut sichtbar: sie spielen Rameau’s farbenreiche, dramatisch-zugespitzte Musik in fein abgestufter Rhythmik und mit klanglicher Delikatesse. Der Chor (Einstudierung: David Cavelius) singt überzeugend, Aussergewöhnliches leistet er jedoch in seiner staunenswerten, szenischer Beweglichkeit. Annalie Sophie Müller (Mezzo) ist die intrigante Phébé, Nicole Chevalier (Sopran) die verzweifelt liebende Télaire, beide Damen sind sehr geschmeidig in Darstellung und Gesang. Dem Castor verleiht Allan Clayton seinen kraftvollen Tenor, darstellerisch vermag er erst im zweiten Teil zu überzeugen, während Günter Papendell den Pollux durch seinen eleganten Bariton, vor allem jedoch durch seinen virtuosen körperlichen Einsatz geradezu zur Hauptfigur des Stückes macht. Solide sind die drei kleinen Nebenrollen besetzt.
Ein aussergewöhnlicher Abend: eine fast unbekannte Oper, die sich als dramatisches Meisterwerk entpuppt und eine raffiniert-schlichte, sich auf das Wesentliche konzentriende Inszenierung – ein neuer Triumph für die Komische Oper, ihren vielseitig-agierenden Intendanten und seinen abwechslungsreichen Spielplan.

Foto: Gunnar Geller / Komische Oper Berlin (Günter Papendell als Pollux)

nächste Vorstellungen: 15./30.Mai/ 6.Juni/ 12.Juli 2014