Geld oder Arbeitsplatz?: ‚Zwei Tage, eine Nacht‘ von Jean-Pierre und Luc Dardenne****

Die Industrie-Gegend um das belgische Lüttich. Sandra arbeitet in einer mittelständischen Solarzellen-Fabrik. Als sie wegen Krankheit längere Zeit ausfällt, beschliesst der Firmenchef, ihren Arbeitsplatz einzusparen und durch einige Überstunden der Kollegen zu kompensieren. Zusätzlich verspricht er dem Dutzend Mitarbeiter eine einmalige Bonus-Zahlung von 1000 Euro, falls sie mittels einer Abstimmung mit Sandras Entlassung einverstanden sind. Natürlich entscheidet sich die Mehrheit für das Geld.
Zusammen mit Sandra erreicht eine Freundin und Kollegin an einem Freitagnachmittag, dass diese Abstimmung am kommenden Montagmorgen wiederholt werden muss, da der Vorarbeiter anlässlich der Abstimmung falsche und negative Gerüchte über Sandas Gesundheitszustand und Arbeitsleistung verbreitet hat. Jetzt hat sie übers Wochenende („zwei Tage, eine Nacht“) Zeit, zu versuchen, die Kollegen zu überreden, für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu stimmen – auch wenn ihnen deshalb die 1000 Euro entgehen.
Zunächt ist Sandra verzweifelt und will resignieren. Aber die Freundin und vor allem ihr Mann ermutigen sie und helfen – so gut sie können – ihr bei den demütigenden Bittgängen. Bei einigen Kollegen hat sie Erfolg, andere weisen sie ab. Manchmal will Sandra aufgeben, aber immer wieder findet ihr Mann eine mutmachende Geste oder erfährt sie bei einem Kollegen aufbauende Solidarität. Die Abstimmung am Montag geht zwar unentschieden aus, aber Sandra hat durch die teils bitteren, teils unerwartet positiven Erfahrungen (mit ihrer Familie, mit einigen Kollegen) innere Kraft und Stärke gewonnen. Ein Neuanfang scheint möglich.
Obwohl der Plot etwas mechanisch wirkt – nämlich eine gleichförmige Abfolge von knapp einem Dutzend hintereinander stattfindenden Besuchen Sandras bei den unterschiedlichen Kollegen -  gelingt es dem für Buch und Regie verantwortlichen, belgischem Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne daraus einen sehr spannenden und kurzweiligen Sozial-Thriller zu gestalten.
Wobei der kritische Blick auf das kapitalistische Wirtschaftssystem und den ökonomischen Druck, der oft zur Rationalisierung von Arbeitsplätzen mit schlimmen sozialen Folgen führt, nur am Rande eine Rolle spielt.
Es geht vielmehr um eine filmisch gedachte Reise zu sehr unterschiedlichen Menschen, zu ihrer Arbeitswelt, in ihre Wohnungen, zu ihren Freizeitbeschäftigungen: Arbeiter, die für ihren bescheiden Wohlstand hart ackern müssen. Es sind Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Kulturen, in Temperament wie Haltung sehr verschieden. Ein Kollege braucht das Geld dringend für das Studium seiner Tochter, eine Kollegin richtet sich gerade eine neue Wohnung ein, eine andere lässt sich durch ihre Tochter verleugnen. Ein Schwarzer fürchtet, keine Vertragsverlängerung zu bekommen, wenn er nicht für den Wegfall von Sandras Arbeitsplatz stimmt, ein anderer, ebenfalls Ausländer, schämt sich unter Tränen und verspricht, am Montag für Sandra zu stimmen.
Unerwartete Auswirkung löst Sandras Besuch bei einer Kollegin aus, deren Lebensgefährte sich so brutal und ablehnend verhält, dass diese Kollegin sich von ihm trennt.
Alle Personen ausser Sandra und ihrem Mann treten nur kurz auf, aber es gelingt den Brüdern Dardenne, alle schwarz-weisse Typologie zu vermeiden und sttdessen sehr präzise, menschliche Porträts der einzelnen Personen zu zeichnen, ohne jede moralische Überlegenheit. Und dank der hervorragenden schausspielerischen Leistung und filmischen Präsenz des französischen Stars Marion Cotillard wird auch Sandra zu einer anrührenden und bewegenden Figur mit psychologisch vielschichtigen Facetten.
Der exzellent fotogarfierte, auch raffiniert geschnittenen Film erzählt zunächst eine spannende Geschichte in der heutigen Welt westlicher Industrie-Arbeiter. Sein eigentliches Thema jedoch sind Fragen: Was bedeuten heute Solidarität oder gegenseitige Hilfe – unter Familien, unter Freunden, unter Kollegen? Wie weit kann, darf,  muss sie gehen oder gefordert werden?  Ist sie ein moralischer Wert an sich oder nur eine pathetische und verzichtbare Formel?
Ein diskussionswertes, kleines Meisterwerk – wenn auch mit ein paar (dramaturgisch bedingten) Abstrichen.

Foto/Poster: Alamode Film

zu sehen: Hackesche Höfe Kino (OmU); Eiszeit (OmU); fsk (OmU); Bundesplatz-Kino (dt.und OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; Filmtheater am Friedrichshain; Kant-Kino; Kino in der Kultubrauerei; New Yorck