Riskantes Doppel: Tegebuch eines Verlorenen/ Die geliebte Stimme‘ in der Schiller-Werkstatt ****

In der Mitte des kahlen Werkstatt-Raums befinden sich nebeneinander zwei kleine, nur durch schmale Balken angedeutete Holzhäuschen. Drum herum blicken die Zuschauer auf harten Bänken von allen vier Seiten in deren offene Kammern. In der einen sitzt eine elegante, junge Dame, eine Pariserin, schick gekleidet im Stil der 1950er Jahre. Auf dem Tisch vor ihr: Glas, (Schnaps?-)Flasche und ein Schnur-Telefon, wie es damals gebräuchlich war. Im anderen Haus macht ein ebenfall noch junger Mann konzentiert Eintragungen in ein Schreibheft, der Kleidung nach ein Bauer aus der Zeit um den ersten Weltkrieg.
Nach einigen Minuten des Schweigens erklingen plötzlich aus einer balkonartigen (für die meisten Zuschauer kaum sichtbaren) Nische des Werkstattraumes laute Klavierklänge: die junge Dame greift – in französischer Sprache singend – zum Telefon und beginnt ein letztes, verzweifeltes Gespräch mit ihrem Liebhaber, der sie verlassen hat. Kurze Zeit später Unterbrechung – und nun singt der junge Bauer im Nebenhaus in poetischen, tschechischen Versen von seinem Schicksal: wie er sich in eine Zigeunerin verliebt, mit ihr ein Kind zeugt und daraufhin heimlich den väterlichen Hof verlässt. Dort bleibt für seine Eltern das Tagebuch zurück, in dem er gerade sein Drama beschreibt. Am Ende des jeweiligen Liedes verstummt er und die verlassene Französin im Haus nebenan unternimmt am Telefon den nächsten Versuch, ihren Geliebten zurückzugewinnen. Und immer abwechselnd so weiter…
Die Regisseurin Isabel Ostermann hat zusammen mit ihrem Bühnenbildner Stephan von Wedel das Experiment gewagt, zwei dramatische Musikwerke, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, auf eigenwillige Weise zu verschränken. In der Hoffnung, dadurch innere und unterschwellige Beziehungen oder Haltungen – „Divergenzen oder Konvergenzen“ wie es im Programmheft heisst – sicht- und hörbar mache.
„Das Tagebuch eines Verlorenen“ ist ein Liederzyklus für Tenor und Klavier, den Leos Jancek zwischen 1916 und 1919 komponierte und in dem der damals 61-jährige erstmals seine Schwärmerei für die sehr viel jüngere und verheiratete Kamila Stösslova sublimierte.
„Die geliebte Stimme“ von Henri Poulenc beruht auf einem 1930 entstandenen Theatermonolog des französischen „enfant terrible“ Jean Cocteau und wurde 1959 an der ‚Opera Comique‘ in Paris uraufgeführt – in der Schillertheater-Werkstatt bedient man sich jetzt einer vom Komponisten selbt eingerichteten Klavierfassung.
Inhaltlich konzentrieren sich beide Werk auf einsame Personen in Isolation und Verzweiflung. Musikalisch liegen sie mehr als eine Generationen auseinander, bleiben aber beide tonal – expressiv-emphathisch bei Janacek, rezitativisch mit kleinen ariosen Einschüben bei Poulenc.
Dank der sorgfältigen Regie, dem raffinierten Bühnenbild, das den Zuschauer geradezu hautnah an das Geschehen rückt und dem engagiertem Spiel der dramatischen Mezzosopranistin Carolin Löffler und des hell-timbrierten Tenors Benedikt Kristjánsson entsteht ein ebenso intensiver wie spannender Musiktheater-Abend, anderhalb Stunden lang, ohne Pause.
Ob das Experiment der Verschachtelung der zwei in Form und kulturellem Hintergrund sehr unterschiedlicher Werke gelungen ist und neue Einsichten eröffnet hat, oder ob eine Aufführung der beiden im konventionellem Hintereinander besser oder erkenntnisreicher funktioniert hätte, diese Frage muss offen bleiben.

Foto: Vincent Stefan/Deutsche Staatsoper Berlin

nächste Vorstellungen: 14./ 22./ 23.November 2014