Alltag im Museum: ‚National Gallery‘ von Frederick Wiseman****

Der gerade 85 Jahre alt gewordene Amerikaner Frederick Wiseman zählt zu den bedeutensten Dokumentarfilmern des internationalen Kinos. Eine Justizanstalt für verhaltensgestörte Gefangene, die Intensivstation eines Krankenhauses, die Arbeit von Polizeibeamten in Kansas City oder – zuletzt – das Ballett der Pariser Oper waren Themen seiner mosaik-artigen Film-Beobachtungen. Sein Markenzeichen: Verzicht auf jeglichen gesprochenen Kommentar,  keine erklärenden Interviews, der Zuschauer soll sich seine eigene Meinung über das Gezeigte bilden. Allein die Auswahl der Bilder, Schnitt und Montage lassen gelegentlich einen kritischen Subtext erkennen.
Im Winter 2012 filmte Wiseman mit kleiner Crew den Alltag in der Londoner National Gallery, einem der reichsten und poplärsten Gemälde-Tempel der Welt. Er zeigt die grossen Publikumsscharen vor den (überwiegend älteren) Bildern, lässt in den Verwaltungsbüros über Marketing und Budget diskutieren, verfolgt die geduldige Arbeit der Restauratoren oder begleitet die umfangreichen Vorbereitungen für Sonderausstellungen über Leonardo da Vinci oder William Turner.
Im Mittelpunkt der 3-stündigen Dokumentation stehen jedoch die grossartigen Ausstellungsführer und Museumspädagogen, die mit viel ansteckendem Enthusiasmus und plastischen Worten dem überwiegend stumm zuhörendem Publikum die Werke eines Tizian, Rembrand oder Rubens erläutern und nahebringen. Und denen es so gelingt, die Kluft zwischen den alten Bildern und dem Lebensgefühl ihrer heutigen Bewunderer ebenso überzeugend und wie nachvollziehbar zu überbrücken.
Besonders eindrucksvoll sind jene Filmsequenzen, in denen Wisemann und sein exzellenter Kameramann John Davey die Gesichter der gemalten Porträts mit den Großaufnahmen ihrer unterschiedlichen Betrachter konfrontiert – und hiermit sowohl den Zauber wie auch die verblüffende Lebendigkeit der alten Bilder sichtbar werden lässt.
Vielleicht ist mancher Einblick vor oder hinter den Kulissen dieses bedeutenden Museums allzu ausführlich geraten, auch erschliesst sich nicht immer die Bedeutung jeder Szene, wie zum Beispiel das Entrollen eines Protest-Plakates an der Aussenfront des Museums (Umwelt-Aktivisten ? wogegen?). Dennoch: ein ebenso kluger wie eleganter Blick in die Welt der Bildenden Kunst und in eine ihrer grössten und bedeutensten Schatzkammern.
Poster/Verleih: Kool
zu sehen: Delphi; Filmtheater am Friedrichshain; fsk; Odeon (alle OmU)