Zimmerschlacht in Anatolien: ‚Winterschlaf‘ von Nuri Bilge Ceylan****

Ein abgelegenes Dorf in Kappadokien, dem pitoresken Herzen der Türkei. Aydin (Haluk Bilginer), der lange Zeit als Schauspieler in Istanbul lebte, ist nach dem Tod seiner Eltern in seinen Geburtsort zurückgekehrt. Mit seiner jüngeren Frau Nihai (Melisa Sözer) betreibt er ein kleines, hübsches Hotel und verwaltet nebenbei weitere ererbte Immobilien. Ausserdem lebt seit kurzem seine frisch geschiedene Schwester Necla (Demet Akbag) ebenfalls im höhlenartigen, luxuriösen Hotel. Alle Geschäfts- und Verwaltungsarbeiten überlässt Aydin jedoch seinen Angestellten, denn er widmet sich überwiegend seiner Lieblingtätigkeit, dem Schreiben: verfasst zeit- und gesellschaftskritische Kolumnen für eine Lokalzeitung, bereitet ein Buch über die Geschichte des türkischen Theaters vor. Seine Frau Nihai engagiert sich dagegen für Soziales, organisiert mit Gleichgesinnten eine Sammlung zugunsten der maroden Dorfschule.
Als der Winter (und auch der Film) beginnt, verlassen die letzten Touristen das Hotel – es wird einsam um Aydin und seine kleine Familie. Doch als es zu Streitigkeiten mit den Mietern einer seiner Immobilien kommt, da diese mit Zahlungen im Rückstand sind, weitet sich dieser nebensächliche Konflikt zur grossen Auseinandersetzung zwischen dem zunächst charmanten und jovial auftretenden Aydin und den beiden Frauen aus. Denn sowohl Ehefrau wie Schwester versuchen, ihn als in Wahrheit selbstgerechten und bornierten Macho zu entlarven – in zwei getrennten, langen und scharf geführten Auseinandersetzungen. Regelrechte Zimmerschlachten, in denen sich alle drei mit moralischen Argumenten zu verteidigen und zu rechtfertigen oder den anderen zu verletzen versuchen – am Ende packt Aydin seinen Koffer und lässt sich von seinem Hausmeister durch die stark verschneite Landschaft zum entfernten Bahnhof fahren. Doch zu einem neuen Leben im fernen Istanbul hat er nicht mehr die Kraft – reumütig, etwas kleinlaut – und auch ein bisschen selbstkritisch – kehrt er nach Hause zurück, wo ihn Nihai, ebenfalls zweifelnd und ratlos, erwartet -  zumal auch sie mit ihrem sozialen Engagement zumindest teilweise gescheitert ist. Der Schnee bedeckt meterhoch die kappadokische Landschaft, physisch und psychisch herrscht Winterschlaf.
Die Inzenierung von Nuri Bilge Ceylan entfaltet ganz langsam und ruhig die Charaktere der drei Hauptfiguren Aydin, Nihai und Necla, vermeidet dabei alles Plakative und belässt den Figuren ihre Ambivalenz. Dabei bleiben ihre Handlungen und Argumente für den Zuschauer immer nachvollziehbar und einsichtig, auch wenn sie problematisch oder ungerecht ausfallen. Mal herrscht ein trocken-ironischer Ton vor, mal schleicht sich tragisch-gestimmtes Pathos ein. Kontrastiert werden diese seelisch-moralischen Wort-Schlachten der begüterten Protagonisten durch bildmächtige Szenen in der Natur, wie zum Beispiel das Einfangen wilder Pferde, oder im kargen Haushalt der verschuldeten Mieter-Familie, wo die Armut immer wieder körperliche Gewalt provoziert.
Die Schauspieler sind als Typen vortrefflich  ausgewählt, lassen aber durch ihr nuanciertes Spiel alles Nur-Typische weit hinter sich und überzeugen als vielschichtige und psychologisch differenzierte Charaktere.
Nuri Bilger Ceylan hat für dieses Winter- und Seelen-Drama in Cannes 2014 die Goldene Palme errungen. Verdient. Doch der 196 Minuten dauernde Film mit seinen beiden breit  ausgespielten Dialogszenen im Mittelpunkt (die stark an das Theater eine Tschechow oder Albee erinnern) fordert vom Kino-Publikum einige Bereitschaft zu geduldigem Zuschaunen, wie zu konzentiertem Hinhören.
PS: Man kann die Geschichte auch als Parabel auf den aktuellen, (gesellschafts-) politischen Zustand der Türkei lesen, doch gibt es im Film selbst keine direkten Hinweise auf eine solche Deutung.

Poster/Verleiher: Weltkino Filmverleih

zu sehen: b-ware! ladenkino (OmU und dt.); fsk (OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Rollberg (OmU); Filmtheater am Friedrichshain (dt.); Kant-Kino (dt,)