Zwischen Rummelplatz und Todeszelle: ‚Faust‘ in der Deutschen Oper Berlin***

Schon während der Ouvertüre hebt sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf  Margarethe, die im Gefängnis ihre Hinrichtung erwartet. Ein rießig-starrer Beton-Turm beherrscht die gesamte Mitte der Bühne, ein ebenso stumpf-graues Halbrund umschließt den Raum, verdrängt das Geschehen an die Rampe. Mittels Drehbühne kreiseln um diese mächtige Beton-Säule sämtliche Personen und Requisiten wie lebende Bilder herein – und dann wieder heraus :  sozusagen Gretchens Erinnerungen an das Vergangene. An  einen alten Faust im hochmodernen, fahrbaren Krankenstuhl, an eine Gang junger Schulmädchen im Faltenrock und in Kniestrümpfen – auf die sich Fausts Sex-Fantasien vermutlich konzentrierten – , an eine bedrohliche Volksmenge mit Babymasken, an blinkende Autoscooter und blitzende Leuchtreklamen sowie an einen Herrn Mephisto im rosa Paillettenanzug, der das gleiche Modell dann auch dem (durch Abwerfen seiner Krankenhaus-Klamotten) jugendlich gewordenen Faust verpaßt.  Sie selbst, Gretchen, – halb Kellnerin, halb Krankenschwester – wohnt in einem Mini-Wohnwägelchen und entdeckt nicht nur die berühmte, von Faust versteckte Juwelenkette, sondern gleich eine ganze Glitzer-Garderoben-Ausstattung. Im zweiten Teil – wenn Faust sie verlassen hat – beginnt es dauer-zu-schneien, der Pappmasken-Chor zeigt mit dem Finger auf sie, nur der junge Sièbel, hier ein  Zigarrenverkäufer im Hasenkostüm, bleibt ihr treu, auch wenn sie ihn abweist.  Schließlich kehrt in schwarzer Lederjacke Bruder Valentin aus dem Krieg zurück, wird von Faust und der Schulmädchen-Gang unter Verfluchung seiner Schwester erdolcht. Statt der Walpurgisnacht erlebt Gretchen in ihren nach wie vor herum kreiselnden Erinnerungsbildern eine schrille Hochzeits-Kapelle mit vielen (Chor-)Bräuten und ihren Zylinder werfenden Partnern. Am Ende dringt Faust nachdem er zwei Polizisten kalt abgeknallt hat, zu ihr ins Gefängnis ein, doch sie weißt den Untreuen zurück – und erleidet hyperrealistisch – gefesselt auf einer Bahre – den Tod im Beisein zweier Ärzte durch die Giftspitze. Unsichtbar hinter der Betonwand preist der himmlische Chor ihrer Rettung.
Regisseur Philipp Stölzl erzählt die 1859 in Paris uraufgeführte Erfolgsoper „Faust“ von Charles Gounod wie einen Comic-Strip aus der Pettycoat- und Schmalztollen-Zeit, eine Collage aus düster glitzerndem Rummelplatz-Drama und leicht kitschig-überdrehtem Hollywood-Kino. Doch die Mischung wirkt – wie das vom Beton brutal beherrschte Bühnenbild – kalt und oft platt. Die Inszenierung gleicht einer Spieluhr, die sich optisch zwar sehr effektvoll dreht, deren Figuren jedoch puppenhaft steif und leblos wirken.
Leider kann Gounods gefühlvolle und elegante Musik die grell-fade Szene nicht ganz überspielen. Fehlt doch fast allen Sängern das Gefühl für die stilistischen Besonderheiten der französischen „Opera lyrique“. Statt dessen wird geschmettert wie in einem italienischen Verismo- Reißer. Ildebrando D`Arcangelo verfügt zwar über einen satten Baß-Bariton, sein Mephisto bleibt dennoch hohl und kaum dämonisch oder verführerisch. Als Faust besitzt der junge Nachwuchsänger Teodor Ilincai einen sehr kernig-kraftvollen, wenn auch (noch?) wenig flexiblen Tenor, darstellerisch bleibt er recht blaß. Am überzeugendsten ist Krassimíra Stoyanova als Margarethe: ein klug geführter, schöner Sopran, voller Wärme und Ausdruckskraft, dem – für diese Partie – vielleicht ein wenig die Leichtigkeit in der Höhe fehlt. Ronnita Miller als ironische Wuchtbrumme Marthe, die Stipendiatin Stephanie Lauricella als klar klingender Sièbel und Markus Brück als in seiner Sterbeszene überzeugend fluchender Valentin vervollständigen harmonisch das Solisten-Ensemble. Chor und Orchester der Deutschen Oper klingen fein ausgewogen und wohltuend. Zusammengehalten und belebt wird das musikalische Geschehen durch den Dirigenten Marco Armiliato: er ziseliert lyrischen Feinheiten klangschön heraus und sorgt ausgewogen für notwendigen Schwung und dramatischen Effekt.
Kein mißratener, aber ein in vielen Punkten zwiespältiger Abend.

Foto: Matthias Baus/Deutsche Oper Berlin

Premiere war am 19.Juni; weitere Vorstellungen: 24./27./30.Juni/02./05.Juli 2015