Grelle Horror-Picture-Show: ‚Elektra‘ im Staatstheater Cottbus***

Der Opern-Einakter „Elektra“ von Richard Strauß – nach dem Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal – war bei seiner Uraufführung (Dresden, 1909) ein wahrer Schocker: die Helden der griechischen Antike wurden durch die psychologisierende Brille eines Dr.Freud gesehen, die ausladende Musik ging bis an die Grenze der Tonalität. Dazu große, an Wagner-Opern geschulte  Stimmen, ein Orchester von rund 120 Musikern:  Aufführungs-Voraussetzungen, die mittlere Theater schlicht überforderten – bis heute. Der geschäftstüchtige Strauß hat deshalb eine reduzierte Orchesterfassung für ca. 80 Musiker hergestellt – eine Bearbeitung, die jetzt auch in Cottbus benutzt wird. Überhaupt wird „Elektra“ zum ersten Mal am Staatstheater inszeniert.
Und zwar mit großem Erfolg: vor allem dank des prachtvoll aufspielenden Orchesters unter der äußerst differenzierten und – trotz gelegentlich donnernder Lautstärke – transparenten Anleitung des jungen Generalmusikdirektors Evan Christ. Alle Nuancen der subtilen Partitur, die psychologische Auffächerung der verschiedensten Gefühle wie Wut, Haß, (Geschwister-)Liebe oder seelischer Erstarrung, werden musikalisch klar hörbar – ohne daß dabei auf die berühmte, schwelgerische Klang-Opulenz der Strauß’schen Musik verzichtet wird. Eine Spitzenleistung von Dirigent und Orchester.
Aber auch die Sänger der Haupt-Partien boten Außerordentliches. Gesine Forberger, seit Jahrzehnten dem Haus verbunden, hat sich von einer perlenden Soubrette zu einem kraftvoll-dramatischen Sopran entwickelt, dessen leuchtende Töne trotz extremer Anforderungen immer rund und warm klingen. Auch darstellerisch vermag Gesine Forberger als rabiat-nervöse Elektra zu überzeugen. Ihr ebenbürtig: die Chrysothemis der Maraike Schröter – Gast von der Oper Chemnitz -, eine hell-leuchtende Stimme, die die anschwellende Lyrik dieser Partie voll zum Klingen bringt. Und als dritte im unglücklichen Frauen-Bund: Karen van der Walt als Amulett-behangene Klytämnestra, ein satter, voluminöser Mezzo mit dramatischem Ausdruck. Auch die kleineren Rollen sind musikalisch trefflich besetzt, ob Andreas Jäpel als Orest mit Irokesen-Frisur, Jens Klaus Wilde als ängstlich-eitler Aegisth oder die vielen Nebenrollen wie Aufseherin, Pfleger, Diener oder Mägde. Das Wagnis, diese anspruchvolle, schwierige Strauß-Oper in Cottbus erstmals vorzustellen, ist musikalisch überzeugend gelungen.
Die szenische Einrichtung hat der rührige Intendant Martin Schüler selbst übernommen. Dabei bedient er sich eines Tricks, von dem mittlerweile schon mehrere Theater profitiert haben: das Riesen-Orchester wird auf der Haupt-Bühne plaziert, der überbaute Orchestergraben dient als Spielfläche für die Sänger-Darsteller. So wird auch weitgehend die Gefahr vermieden, daß die Stimmen in den Orchester-Fluten ertrinken.
Bühnenbildnerin Gundula Martin hat ein cinemascope-breites Badezimmer entworfen, weißgekachelt und ziemlich heruntergekommen. Im Hintergrund eine Wand aus dünnen Fensterrahmen, durch die Dirigent und Orchester im sonst dunklen Bühnenraum zu sehen sind. Rechts führt eine steile Wendeltreppe in die Vorderloge des ersten Rangs – gleichsam der Ein- und Austritt zu den Gemächern des inneren Palastes. Gekleidet sind alle Personen entsprechend heutigen Mode-Trends: fließend weiße Gewänder für die Schwestern Elektra und Chrysothemis, die Mutter Klytämnestra in violettem Samt, Bruder Orest im Outfit eines Rockers während die putzenden Mägde mausgraue Kittelschürzen und klobiges Schuhwerk tragen – über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten.
Regisseur Schüler inszeniert die antike „Fin-de-Siècle“-Tragödie als modernen Psycho- und Horror-Thriller. Er hält alle Personen zu fast naturalistischem Spiel an: die Augen müssen rollen, Hände und Arme werden heftigst gereckt oder in Blut getaucht,  es wird viel gestikuliert und im Kreis gerannt sowie oft an die Rampe geeilt, den Blick direkt ins Publikum gerichtet (oder wie es etwas hochtrabend in einem Vorab-Interview hieß, die „vierte Wand“ eingerissen). Eine Spielweise, die eher bajuwarischer Deftigkeit als wienerischer Dekadenz verpflichtet ist. Wenig subtil, aber plakativ und theatralisch  effektvoll.
Doch die mitreißende, musikalische Interpretation überspielt alle szenischen Fragwürdigkeiten – und animiert das Publikum – nach pausenlosen 100 Minuten – zu lang andauernden Beifalls-Stürmen.

Foto: Marlies Kross/Staatstheater Cottbus

nächste Vorstellungen nach der Sommerpause: 04.10./ 15.11./19.12. 2015//23.1.2016