Sex und Sommergäste: ‚Le nozze di Figaro‘ in der Staatsoper im Schillertheater****

Kaum erklingen die ersten Takte der Ouvertüre, öffnet sich die Türe zum rechten Parkett-Foyer und der Graf, die Gräfin, Figaro, Susanna und deren Begleiter erklimmen als kofferbepackte Reisegesellschaft einen um das Orchester herumführenden Steg, schleppen das schwere Gepäck bis vor den roten Samtvorhang, der sich dann langsam teilt und den Blick in ein Sommerhaus freigibt, wo die dortige Dienerschaft die ankommenden Gäste lebhaft willkommen heißt. Der Graf und sein Gefolge machen Ferien. Das bekannte Spiel um die immer wieder  (vom Grafen) hinausgezögerte Hochzeit von Figaro und Susanna spult sich auch in dieser schick-ramponierten Jalousien-Architektur mit ihren  Kleiderschränken, Betten und Liegestühlen ebenso intrigen- wie temporeich ab (Bühne: Magdalena Gut). Am Schluß,  nachdem die richtigen Paare sich gefunden und die Gräfin ihrem Lotter-Gatten großzügig Pardon gewährt hat, bricht die ganze Gesellschaft in Vorfreude auf Hochzeit, Festessen und Ball abermals auf – verläßt das Bühnen-Sommerhaus, schleppt seine Koffer an Orchester vorbei wieder weg  -  ab ins Foyer!
Regisseur Jürgen Flimm erzählt Mozarts „Hochzeit des Figaro“ als leichtgewichtiges Sommer-Theater. Sex spielt dabei die entscheidende Rolle, egal ob bei der Herrschaft oder unterm dienenden Personal – hier grapscht jeder nach jedem. Ein Hauch Tschechow (oder Gorki), ein bißchen „Downton Abbey“ und jede Menge Komödienstadl. Chargiert wird bis zur (gewollten) Karikatur. Und die Beine geschwungen in bester TV-Manier.
Daß diese Mitsommernachts-Sex-Komödie jedoch nicht in eine allzu derben Klamotte abstürzt, verdankt sie der genialen Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, die all diesen vom Sex überdeutlich beherrschten Commedia-del-Arte-Figuren immer wieder menschliche und lebendige Züge verleiht,  und so deren innere Gefühle und Erregungen glaubhaft und anrührend macht.
Die Sänger bilden deshalb das Zentrum der Aufführung, ihre Gesangskunst veredelt den oft groben Theaterspaß. Dorothea Röschmann als resche, mollerte Gräfin mit kleiner Träne in der Kehle, Ildebrando D `Arcangelo als Graf, ein eleganter, südländischer Macho mit fülligem Bariton, Anna Prohaska als kecke, rotgelockte Susanna mit Silbersopran, Lauri Vasar als allerter Figaro in Knickerbogger, dessen kräftiger Bariton jedoch etwas steif klingt, und Marianne Crebassa in der Rolle des kindlichen Cherubino, schwarz-samten in Erscheinung und Stimme.
Dank der extravaganten Kostüme und fantasievollen Hüte im Retro-Stil (Ursula Kudrna) werden auch die Nebenfiguren aufgewertet: die Marcelline der Katharina Kammerloher ist eine elegante Dame in Weiß, ihr Doktor Bartolo (Otto Katzameier) ein noch attraktiver Herr im hellen Zweireiher, der Musiker Basilio von Florian Hoffmann ein spilleriger Jungspunt mit Schlapphut. Nur der Gärtner Antonio, der diesmal nicht nur den zerstörten Blumentopf als Anklage gegen einen Fensterspringer  vorbringt, sondern gleich drei Schubkarren voller Grünzeug auf die Bühne leert, ist bei Olaf Bär der bekannte grummelige Alte. In der kleinen Rolle des grauköpfigen Richters Don Curzio bewährt sich Peter Maus.
Die Chor-Mitglieder triumphieren hauptsächlich als flotte (weibliche wie männliche) Mannequins für exzentrische Sommerklamotten.
Gustavo Dudamel, hochgehandelter (noch) Jung-Star, dirigiert erstmals eine Oper in Berlin. Er tut das erstaunlich zurückhaltend, konzentriert sich ganz auf die sorgsame Begleitung der Sänger und ihrer vielfältigen Bühnenaktionen, was die (von der Regie) breit ausgespielten Rezitative gelegentlich recht zähflüssig werden lässt. Die Staatskapelle musiziert flexibel und klang-satt. Sein Können beweist Gustavo Dudamel vor allem in den großen Ensembles, hier sorgt er für flüssige Tempi und straffen Zusammenhalt von Bühne und Orchester.

Kein bedeutender oder neu-kühner „Figaro“, szenisch eher draller Boulevard, sängerisch jedoch in heutiger Best-Form.

Foto: Hermann und Clärchen Baus/Staatsoper im Schillertheater

Premiere: 07.Nov./weitere Vorstellungen: 09./11./13./15./19./21.Nov.2015