Fahler Todesengel: ‚La Traviata‘ in der Staatsoper im Schillertheater****

„Amore e morte“ sollte ursprünglich die Oper von Giuseppe Verdi heißen, die heute als „La Traviata“ zu seinen populärsten Werken gehört. Regisseur Dieter Dorn – in den 70er Jahren am Schillertheater tätig, danach Jahrzehnte hochgeschätzter (Sprech-)Theater-König in München und vor wenigen Wochen 80 Jahre alt geworden – betont in seiner Neuinszenierung für die Berliner Staatsoper fast ausschließlich den Aspekt des Todes. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen – im Libretto durchaus angedeutet – spielt keine Rolle.
Violetta Valery, die „vom Weg Abgekommene“, erlebt in den letzten Augenblicken vor ihrem Tod nocheinmal in blitzartigen Erinnerungsfetzen, die Geschichte ihrer Liebe zu Alfred Germont und deren tragisches Scheitern. Die fast leere Bühne ist von schwarzen Samtvorhängen umschlossen, in der Mitte ein riesiger Spiegel, der gelegentlich auch durchsichtig werden kann, ein kleiner Tisch mit Kerze, ein paar Stühle. Einsam lauscht Violetta – barfuß, dunkler Unterrock – den zunächst silbrig-jenseitigen Klängen des Vorspiels, mustert sich im Spiegel, in dem dann plötzlich ein übergroßer Totenschädel aufscheint und sich dann auflöst: gebildet aus acht Artisten in weißen Ganzkörpertrikos, die auch später immer mal wieder stumm auftauchen wie mahnende Gespenster – eine der verzichtbaren Ideen des Regisseurs, der ansonsten sich ganz auf eine psychologisch präzise Führung der Hauptpersonen konzentriert. Wie in einem fiebrigen Traum ziehen die Szenen ohne Pause vorüber: die fast leere Bühne ermöglicht blitzschnelle Auf- und Abtritte, auch des großen in stark farbige, fast zeitlose Abendroben gekleideten Chores (perfekt einstudiert von Martin Wright). Violetta, die für die Gesellschafts-Szenen in ein silber-funkelndes Kleid schlüpft, das sie dann beispielsweise während ihrer großen, besinnlichen Arie am Endes des ersten Aktes langsam wieder abstreift, steht immer im Mittelpunkt, meist – wie auch die übrigen Personen – gedoppelt durch den Riesenspiegel. Am Ende stirbt sie nicht wie gewohnt, indem sie auf den Boden oder ins Bett fällt, sondern sie verschwindet – in eine Welt hinter dem Spiegel und alle Umstehenden bleiben ratlos oder verblüfft zurück.
Dieter Dorns Interpretation, die auf jeden ausgepinselten Bühnenrealismus verzichtet, versucht aus Musik und Text intellektuell erfahrene Einsichten in leicht abstrahierte Haltungen, Bewegungen und Bild-Arrangements zu übersetzen. Sie ist in ihrer Stringenz bewundernswert, auch wenn sie teilweise rätselhaft oder unterkühlt wirkt. Ihre Durschlagskraft hängt dadurch stark von den Sängern und ihrer Darstellungskunst ab.
Hier hat die Staatsoper ein Dispositionsproblem: für die Rolle der Violetta wird eine mit riesigen Vorschußlorbeeren (hauptsächlich von ihrer Plattenfirna) bedachte junge Sängerin, Sonya Yoncheva, engagiert, das Publikum ist neugierig, die Vorstellungen sind ausverkauft, und dann tritt der neue Star nur  an drei der fünf angesetzten Abenden auf – mit der Entäuschung vieler Zuhörer muß daraufhin die Zweitbesetzung, Nadine Koutcher, unverdientermaßen zurechtkommen. Hier ist ein geschickteres Management gefordert.
Ich habe eine der Vorstellungen mit Nadine Koutcher erlebt: eine technisch perfekt fokussierte und geführte Stimme, die jedoch erst im Laufe des Abends an Ausdruck gewinnt – ebenso wie ihre Darstellung dieser vereinsamten Frau im Angesicht des Todes erst in den letzten Szenen unmittelbar berührt. Als Alfred sprang an diesem Abend (krankheitshalber) der Amerikaner Eric Cutler ein:  nach anfänglich tenoralem Näseln steigert er sich zu dramatisch-kraftvollem Ausdruck. Simone Piazolla als Vater Germont besticht durch einen runden, vollen Kavaliersbariton, als Darsteller bleibt er in seinem schlichten Anzug (wohl von der Regie gewollt) betont blaß. Musikalischer Triumph des Abend sind – unerwartet bei dieser Oper – die Musiker der Staatskapelle und ihr Chef Daniel Barenboim. Sie bereiten den Sängern den idealen Boden, tragen sie bildlich auf ihren Händen. Selten werden Orchestervorspiele zu Arien oder Ensembles so differenziert und delikat musiziert, selten werden die unterschiedlichten Rhythmen so federnd und trocken gezündet, selten klingt Verdi so farbig, mitreißend und anrührend zugleich An diesem Abend gehört Daniel Barenboim und seinen Musikern die glänzende Krone. Allen düsteren Todesbeschwörungen auf der Bühne zum Trotz.

Foto: Deutsche Staatsoper/Bernd Uhlig

Premiere war am 19.Dez.2015, vorerst letzte Vorstellung ist der 31.Dez.2015 (ausverkauft)