Ein Auschwitz-Thriller? : ‚Son of Saul‘ von László Nemes****

Auschwitz-Birkenau, Oktober 1944. Der Ungar Saul Ausländer gehört zu jenem Sonderkomando, das die Nazis aus körperlich kräftigen, eingelieferten Juden zusammengesucht haben, um die „schmutzigen“ Arbeiten auszuführen: den jeweils neuen Opfern beim Entkleiden zu helfen, sie in die angeblichen Duschkammern zu pressen, danach die abgelegten Kleider nach Wertgegenständen zu durchsuchen, anschließend die Leichen in die Krematorien zu schaffen, die Gaskammern zu säubern sowie die anfallenden Aschemengen zu beseiteigen. (Nach einigen Wochen würden diese „Helfer-Sklaven“ und unfreiwilligen Zeugen der Verbrechen hingerichtet.)
Saul (dargestellt von dem ungarischen Dichter Géza Röhrig) – leicht verstört die Neuankommenden durchforschend – glaubt in der Leiche eines Jungen seinen Sohn zu erkennen. In einem inneren Akt des Widerstandes und der Menschlichkeit versucht er, den Leichnam vor der Verbrennung zu retten und sattdessen nach jüdischen Ritual zu begraben. Dafür sucht er – allen grauenvollen Umständen und Unmöglichkeiten zum Trotz  – mit eisener Energie und List einen Rabbi, der ihm beim Erdbegräbnis hilft und das Kaddisch spricht. Zur gleichen Zeit  versuchen einige Mithäftlinge des Sonderkommandos eine Aufstand und Ausbruch zu organisieren. Doch die Flucht, der Saul sich mit dem toten Sohn im Arm anschließt, mißlingt ebenso wie der Versuch einer rituellen Beerdignung. Was bleibt, ist ein Traumbild Sauls, der seien Sohn lebend in die polnischen Wälder fliehen sieht
Der ungarische Regisseur László Nemes hat für diese ungewöhliche Geschichte eine neuartige und faszinierende filmische Form gefunden. Im nur noch selten benutzten, alten 4:3-Format sitzt die Handkamera dem Darsteller des Saul buchstäblich „im Nacken“: hautnah zeigt das schmale, fast quadratische Bild die Groß- oder Nahaufnahme seines Gesichtes, dahinter nur verschwommen seine Umgebung: das grausame Geschehen vor den Gaskammern, das brutale Herauszerren der Leichenberge, die brutalen Auftritte der Nazi-Offiziere und ihrer Schergen, die heimlichen Vorbereitungen des Aufstandes der im Sonderkommando versklavten Männer und schließlich die waghalsige Flucht durch einen Fluß und in die Wälder…
Diese raffinierte Bildführung, die die graustigen Geschehnissen nur verschwommen im Hintergrund andeutet, wird ergänzt durch eine hoch-komplexe Tonspur, in der sich Schüsse und Schreie, Kommandos und Wortfetzen in unterschiedlichen Sprachen sowie vielerlei Geräusche und Laute äußerst realistisch mischen. Was das Auge nur schemenhaft wahrnimmt, registriert das Ohr in erschreckender Deutlichkeit.
Doch erzählt werden diese Geschichten nach konventionellen, dramaturgischen Regeln. Die Szenen sind inszeniert und geschnitten wie in einem guten Thriller, dessen wichtigstes Ziel es ist, Spannung aufzubauen. Hier wirkt der Film gelegentlich über-konstruiert und opfert ein wenig seine Glaubwürdigkeit seiner brillanten Machart.
„Son of Saul“ wird seit seiner Premiere in Cannes 2015 mit Auszeichnungen geradezu überhäuft, zuletzt mit dem diesjährigen Oscar für den besten Film in nicht-englicher Sprache. In Deutschland stößt er auch auf Vorbehalte, die vor allem auf dem bekannten, provokativem Diktum Adornos (keine Kunst nach Auschwitz) und der epochalen „Shoa“-Dokumentation von Claude Lanzmann beruhen, in der auf jegliche nachgespielte Szene in Vernichtungslagern bewußt verzichtet wird.. Doch scheint dieses „Bilderverbot“ nicht mehr so streng beurteilt zu werden, je jünger die Generationen der Betrachter sind und je weiter die schrecklichen Ereignisse in einer fernen historischer Distanz verschwimmen.

Poster/Verleih: Sony Pictures Germany

zu sehen(nur OmU): Filmtheater am Friedrichshain; fsk Kreuzberg; Kant-Kino; Movimento; Delphi(Sonntags-Matinée)