Träume in Absurdistan: ‚Juliette‘ in der Staatsoper im Schillertheater****

JulietteMichel ist Buchhändler in Paris und begibt sich auf die Suche nach einer fernen Geliebten: Juliette, die er einmal vor Jahren an einem Fenster in einer kleinen Stadt gesehen hat. Doch er landet in einer absurden Welt: er wird umschmeichelt und bewundert, aber auch betrogen und umhergejagt, einmal sogar fast gelyncht. Er begegnet alten und jungen Arabern, Matrosen, Polizisten, einer Fischverkäuferin und Handleserin, einem Bettler und einem Nachtwächter, bis er plötzlich die Stimmer der ersehnten Juliette aus einem Fenster hört. Ein Rendezvous kommt zu Stande,in dem Michel erregt seine Gefühle offenbart, das aber mit einem Schuß endet. So steht Michel am Schluß vor dem „Zentralkommisariat der Träume“, schuldgeplagt, in weißen Nebelwolken gleichsam vor dem Nichts, bis er plötzlich wieder die geliebte Stimme hört…

„Juliette oder der Schlüssel der Träume“ heißt das surreale Theaterstück von Georges Neveux, nach dem sich der tschechische Komponist Bohuslav Martinu in den 1930er Jahren – mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors – eine dreiaktige Oper schuf (UA Prag,1938). Eine schillernd-bunte Collage unterschiedlichster musikalischer Stile: Impressionistische Klangzauberei à la Debussy, rhytmische Härten wie nach Art Strawinsky’s, ein bißchen Operette, Jazz und Kabaret, zartes Triangel-Geklingel und aufrauschende Streicherwucht. Alles aber in eine raffiniert-ausgewogene Balance gebracht und zu musikalischem Surrealismus verschmolzen.

Daniel Barenboim und seine Staatskapelle verfügen über die nötige Erfahrung und das virtuose Können diesen schillernden Klang-Kosmos elegant zu entfalten und zu effektvoll leuchtender Wirkung zu bringen. Regisseur Claus Guth hat sich von Alfred Peter einen hellen Bühnenkasten bauen lassen: mit vielen auf- und zuklappenden Türen, Fensterchen oder Bodenlucken. Wie chaplineske Figuren purzeln, hüpfen oder springen die Figuren durch diese kafkaeske Welt – singend, tanzend oder gelegentlich auch mal sprechend. Auf die Sekunde ist jede Bewegung dieser merkwürdigen Alltags-Personen getaktet, komisch-absurde Opern-Marionetten, lustig und befremdlich zugleich.

Im Mittelpunkt dieses fast drei-einhalbstündigen (und damit zu langen) Abends steht jedoch nicht die Titelfigur Juliette, der Magdalena Kozená im roten Kleid und mit geschmeidiger Stimme eine sanft-prägende Gestalt verleiht, sondern vielmehr der Michel des Rolando Villazón. Eine Monster-Partie, die jedem Tenor das Äußerste abfordert. Villazón, einst Weltstar in seinem Fach, hat durch Krankheit seinen stimmlichen Glanz verloren. Doch er nutzt die inzwischen brüchige Stimme in dieser selten gespielten Oper sehr geschickt als charakterlichen Ausdruck für die Zwiespältigkeit eines Traumtänzers zwischen Wahn und Realität. Verstärkt durch seine großen, schauspielerischen Fähigkeiten wird so dieser Michel zu einem jener traurig-komischen Clowns wie sie – ebenfalls in der zwanziger und dreißiger Jahren und in der Welt des Films – Charlie Chaplin so unvergesslich erschuf. Und die beide mit den gleichen großen, schwarz-umrandeten Augen ausdauernd und zäh ihren Platz in einer unverständlichen Welt zu behaupten versuchten.

Großer Beifall für einen ungewöhnlichen Musiktheater-Abend.

Premiere: 28.Mai 2016                                                                                                                      Foto: Monika Rittershaus /Staatsoper Berlin