Fitness und Sex: ‚Die Entführung aus dem Serail‘ in der Deutschen Oper Berlin**

Entführung DOBWolfgang Amadeus Mozarts Türkenoper „Die Entführung aus dem Serail“ ist vor 234 Jahren in Wien uraufgeführt worden. Die Idee der Deutschen Oper: das „alte Werk“ soll von einem jungen Regisseur frisch gesehen und von einem erfahrenen Dirigenten attraktiv geleitet werden – für heutige Generationen. Weitere Werke des Komponisten sollen in den nächsten Spielzeiten folgen, entsprechend diesem Konzept.

An der Bismarckstraße debütiert der Argentinier Rodrigo Garcia (geb, 1964), von dessen provokanten Schauspiel-Inszenierungen die Deutsche Oper sich eine günstige Werbewirkung verspricht, als Musiktheater-Regisseur. Doch ihn interessiert Mozarts Vorlage kaum – weder die Entführungs-Geschichte noch die kulturell unterschiedlich geprägten Personen. Stattdessen schmückt er die einzelnen Szenen mit üppigen, optischen Einfällen aus und reiht sie zu einer comic-grellen Show – zwischen Fitness-Studio und Sex-Club. Schon die Ouvertüre gibt den Ton vor. In einer waghalsigen Video-Fahrt rast die männliche Hauptperson Belmonte, begleitet von zwei Nutten, in einem roten Sportwagen tollkühn über Land und Wasser. Die Musik, obwohl vom Orchester fein ziseliert, dient nur noch zur flotten Untermalung. Am Ende dieser Einleitung rollt das kuriose rote Cabrio auf mächtigen Baggerrädern real auf die Bühne, wo ein noch jugendlicher Haremswächter Osmin den Zutritt zu Bassa Selims Palast verwehren will. Dieser Bassa ist zu einer sportlichen, farbigen Frau mutiert (klar artikulierend: TV-Moderatorin Annabelle Mandeng), die Zuneigung zu Konstanze erhält so lesbische Züge. Überhaupt dominiert der Sex: kaum besingt Belmonte seine Freude, die Geliebte wieder zu treffen, schon sieht man ihn im Video-Film, wie er mit den beiden Nutten zur Sache geht. Konstanzes Interesse gehört dagegen eher der körperlichen Fitness: im Trainingslauf besingt sie ihr trauriges Schicksal und als Selim ihre Zurückweisung mit der saloppen Bemerkung quittiert: „manchmal könnte ich dich töten“ , jubelt sie über „Martern aller Arten“ zwischen einer Chorusline zahlloser Statistinnen, die modische Damen-Unterwäsche in Schwarz und Weiß vorführen. Auch Drogen spielen wohl noch eine Rolle in diesem seltsam dunkel-glatten „Serail“, in dem das berühmte Quartett der beiden Liebespaare, in dem es um Treue, Hoffnung, Zweifel und wahre Gefühle geht, in einer gymnastischen Sex-Orgie endet. Das Opern-Ende bleibt – im Gegensatz zu den herkömmlichen Dialogen, die durch flappsige Sprüche in englicher Sprache ersetzt werden – erhalten: nach der filmreifen Verhinderung der Entführung (Star-Wars lassen grüßen!) verabschiedet der weibliche Bassa die gefangenen Paare in die Freiheit, nicht ohne skeptische Bemerkungen über deren chaotisch-erotische Zukunft.

Ein knallig bunter Jungmännertraum, eine Hochglanz-Inszenierung für Freunde der Muskel-Buden, durchaus effekt- und wirkungsvoll. Doch die Personen bleiben Pappkameraden oder – in den besten Momenten – lustige Comic-Figuren. Mozart hat aber differenzierte, menschliche Charaktere geschaffen, ihre Psychologie musikalisch fein verästelt. Darunter leiden in erster Linie die durchweg sehr jungen Sänger: alle technisch gut ausgebildet, klar und sauber singend, lässt ihnen die Regie keine Möglichkeit, ihr Inneres, ihr Herz zu zeigen. Kathryn Lewek (Konstanze), Siobhan Stagg (Blonde), Matthew Newlin (Belmonte), James Kryshak (Pedrillo) machen gute Figur, bleiben jedoch ohne Charakter. Nur Tobias Kehrer vermag – mit flüssigen Baß – seinem Osmin ein wenig Persönlichkeit zu verleihen. Auch Generalmusikdirektor Donald Runnicles und sein klangschön spielendes Orchester vermögen sich nur in einigen Passagen durchzusetzen. Fast jede differenziert die Tief- und Vielschichtigkeit von Mozarts Musik ausleuchtende Passage wird durch die plakativ-glatte Bühnen-Show überdeckt.

Schade. Aber Mozarts Opern fordern nun mal eine ebenso phantasievolle wie genaue Personen-Regie – szenisch und musikalisch.

Premiere: 17.Juni 2016  (empfohlen ab 16 Jahren)                                                                             Foto:Thomas Aurin/Deutsche Oper Berlin