Winter-Gefühle: ‚Manchester by the sea‘ von Kenneth Lonergan****

Manchester byLee Chandler (Casey Afflek) arbeitet als Haustechniker eines Wohnblocks in Boston. Etwa 40 Jahre alt, schweigsam, zurückhaltend, eigenbrödlerisch. Eines Tages erhält er einen Anruf aus der Klinik seines Heimatortes Manchester, einer kleinen Küstenstadt in New Hampshire: als er dort eintrifft, ist sein Bruder Joe gerade einer Herzattacke erlegen. Lee muß nun nicht nur seinen Bruder beerdigen, sondern laut Testament auch die Vormundschaft für dessen 16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) übernehmen. Aufgaben, die nicht nur ungewohnt für den Einzelgänger Lee sind, sondern seinen Gefühlshaushalt oft überfordern. Denn nicht nur der Hockey-spielende Patrick, der Beziehungen zu zwei Freundinnen unterhält, die nichts von einander wissen dürfen, erweist sich als sehr eigenwillig, sondern Begegnungen mit alten Freunden und Bekannten mahnen an Lee’s schwierige Vergangenheit in Manchester und an die Gründe, warum er diesen vertrauten Ort einst verlassen hat. Verstörende Bilder – filmische Rückblenden – tauchen in ihm auf: Bilder seiner teils, glücklichen, teils chaotischen Ehe mit Randy (Michelle Williams), Bilder vom schrecklichen Brand seines Hauses, an dem er nicht ganz unschuldig war und bei dem seine drei kleinen Kinder umkamen. Nur ganz langsam beginnt die innere Verstörung Lee’s in der winterlich-grauen Landschaft des Küstenstädtchen sich zu entkrampfen, nur zaghaft bildet sich Vertrauen zwischen Onkel und Neffen und schließlich die leise Hoffnung auf eine Lösung des Vormundschaffts-Problems  adoptiert im kommenden Sommer. Freunde der Familie in Manchester wollen Patrick adopieren.

Der 5-jährige britische Regisseur Kenneth Lonergan, der auch das Drehbuch verfasste, gilt als eigenwillig und für Hollywood-Verhältnisse schwierig, weshalb „Manchester by the sea“ auch erst sein dritter Spielfilm ist. Diese Eigenwilligkeit zeigt sich ganz deutlich in der Art, wie er die an sich simple Familien-Geschichte in Szene setzt. Das Grundtempo des Films ist ungewöhnlich langsam, äußerst ausführlich werden alle Ereignisse geschildert. Scheinbare Nebensächlichkeiten rücken ins Bild, werden auch wiederholt und setzten so  ganz allmählich die Charaktere der handelnden Personen aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen. Lee’s Psyche wird so in ihrer Vielschichtigkeit deutlich erkennbar, sein abweisendes Understatement, seine Verstörung, seine langsame Befreiung aus der inneren Erstarrung. Auch der herwachsende Patrick, der seinen noch jungen Vater verliert und dessen Mutter in Alkohol, Tabletten und Religion abdriftet, wird duch Gesten und scheinbar zwiespältige Handlungsweise zum  glaubhaften Charakter: jugendliche Unsicherheit mischt sich mit keckem Wagemut, Aufbegehren gegen Lee und desse Vormundsrolle ringt mit Gefühlen für und gegen traditionelle, aber dennoch verwurzelte Familienbande. Sogar die Nebenrolle von Lee’s geschiedener Frau Randy wird durch die kluge Inszenierung den wenigen Szenen, in denen sie auftritt, zum überzeugenden Bild einer Frau, die ihre vergangenen Gefühle  mit der gegenwärtigen  Situation – neuer Ehemann, neue Kinder –  nicht in Übereinstimmung zu bringen vermag.

Diese ausführliche, aber nie langatmige Inszenierungsweise führt zur – für einen Familien-Film – ungewöhlichen Länge von 137 Minuten. Gelegentlich hellt ein trockener Humor die bedrückende Geschichte auf. Die immer wieder eingeblendeten Bilder der winterlichen Küstenlandschaftin zu verschiedenen Tageszeiten gliedern und akzentuieren den Ablauf der Ereignisse auf fast poetische Art. Nur die Musik dröhnt gelegentlich, leider stimmungstötend statt stimmungsfördernd, in die oft bildgewaltigen Sequenzen, wie beispielweise beim Brand von Lee’s Wohnhaus.

Doch ohne das bis in die kleinste Nebenrolle hervorragend besetzte Darsteller-Ensemble hätte „Manchester by the sea“ seine Dichte und überzeugende Wirkung nie erreicht. Casey Afflek hat bereits den Golden Globe als bester Darsteller eines Dramas in diesem Jahr erhalten, zumindest eine Oscar-Nominierung dürfte ihm sicher sein. Der junge Lucas Hedges als Patrick ist ein ebenbürtiger Partner und vermag die jugendliche Widersprüchlichkeit der Figur bestens zu erden. Und Michelle Williams spielt die innerlich zerissene, an Schuldgefühlen leidende Ex-Ehefrau so eindrucksvoll, daß auch sie sicherlich für einen der begehrten Hollywood-Preise vorgeschlagen wird.

Sicherlich kein Film für ein Publikum, das leichte Unterhaltung sucht, aber ein sorgfältig und intelligent in Szene gesetztes Familien-Drama, dessen harter Realismus ebenso nachvollziehbar wie anrührend ist.

Postere/Verleih: Universal Pictures Germany

zu sehen: Babylon Kreuzberg(OmU); Bundesplatz Kino; CinemaxX Potsdamer Platz; CineStar Sony Center (OV); Filmkunst 66 (dt. und OmU); Filmtheater am Friedrichshain (dt. und OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Kino in der Kulturbrauere (dt. und OmU); Rollberg (OV); UCI Colloseum