Das lange Warten: ‚Ti Vedo, Ti Sento, Mi Perdo‘ in der Staatsoper Berlin***

Rom, im 17.Jahrhundert. Im Saal eines adligen Palastes probt eine Gruppe aus Musikern und Literaten die Afführung einer Kantate des damals hochberühmten Komponisten Alessando Stradella. Eine Kantate, die Schicksal und Tod des mythologischen Sängers Orpheus ausdeutet. Man erwartet sogar das persönliche Erscheinen des Komponisten, dabei hoffend auf eine noch ausstehende große Sopran-Arie. Doch seinen Ankunft zieht sich in die Länge und die versammelten Künstler überbrücken das lange Warten mit Gespächen und Reflexionen über Kunst und Leben, Schicksal und Tod, während die herumlungernde Dienerschaft sich über die vor ihren Augen ablaufende und nicht enden wollende Probe lustig macht. Am Ende taucht ein junger Sänger auf, überbringt die Schreckens-Nachricht von der brutalen Ermordung Stradellas in Genua und überreicht zugleich der Sängerin ein Blatt mit Noten – die erhoffte Schluß-Arie?

Der sizilianische Komponist Salvatore Scarrino (71) gehört zu den bevorzugten zeitgenössischen Musikern der Berliner Staatsoper – fünf (eher kammermusikalische) Opern hat sie seit 2010 herausgebracht. Das neue Stück mit dem leicht sperrigen Titel „Ti Vedo, Ti Sento, Mi Predo“ (Dich sehen, Dich hören, Mich verlieben) ist Auftragswerk und Koproduktion mit der Mailänder Scala, dort uraufgeführt im vergangenen November, und nun mit identischer Besetzung im Großen Saal der Lindenoper präsentiert.

Ob dieser Schritt zur „Großen Oper“ mit üppigem Personal-Aufwand der eher minimalistischen Musik des Italieners gut tut, scheint mir zweifelhaft. Sciarrinos Musik ist zart, kommt gleichsam aus der Stille, untermalt oder akzentuiert sehr delikat die rezitativischen Sprachmelodien der Sänger; oft sind es nur Einzel- Töne einer Flöte oder sanfte Streicherglissandi, vielfach auch kaum hörbare Geräusche (z.B. vom Donnerblech). Nur selten durchscheidet ein voller, scharfer Orchester-Akzent  die sanfte Partitur, deren gelungenste Passagen die Einbeziehung von originalen Melodien Stradellas sind, die aber zeitgenössisch von Sciarrino instrumentiert werden: hier verbindet sich das Vergangene mit dem Heute  ebenso sinnvoll wie schön.

Vortreffliche Gast-Solisten wie Laura Aikin in der Rolle der „Sängerin“, Charles Workman als „Musiker“ und Otto Katzameier als „Literat“, dazu zahlreiche Ensemblemitglieder in kleineren Neben- oder „Chor“-Rollen sowie exzellente Instrumental-Solisten der Staatskapelle (ergänzt durch Nachwuchsskräfte) bestimmen das hohe musikalischen Niveau der Aufführung. Souverän geleitet und stark auf Klangsinnlichkeit bedacht vom jungen, französischen Dirigenten Maxime Pascal – ein beachtenswertes Debüt an der Staatsoper.

Leider konterkariert die Inszenierung von Jürgen Flimm die zarte Atmosphäre der Oper und arrangiert stattdessen eine grelle „Comedia del’arte“. Zwar läßt sich die weite, fast kahle Bühne mit ihrem Mini-Theaterchen (George Tsypin) durch raffiniertes, farbiges Licht (Olaf Freese) geschickt in stimmungsvolle Räume verwanden; sind die überladenen Pop-Barock-Kostüme und die schrillen Perücken (Ursula Kudrna) eine tolle Augenweide, doch das wilde Dauergerenne  und das ständige Wedeln mit den Oberarmen von Solisten, Tänzern und unzähligen Komparsen macht aus Sciarrinos intelektuell-sensibler Oper eine alberne, Grotesk-Klamotte. Frei nach dem Motto: Mit viel optischem Speck fängt man auch diejenigen Mäuse, die gegenüber Neuer Musik skeptisch sind.