Rainer Allgaier

Theater- und Filmkritiken

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Monat: Februar 2017

Starke Gefühle: ‚Lion‘ von Garth Davis***

24. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

LionDer fünfjährige indische Junge Saroo und sein älterer Bruder Guddu leben zusammen mit ihrer Mutter in einem armen westindischen Nest. Immer auf der Suche nach Essbarem oder  einer möglichen Hilfsarbeit. Auf dem nahen Bahnhof steigt eines späten Abends der müde Saroo in einen leeren Zug und schläft ein. Plötzlich setzt sich der Zug in Bewegung, die Türen sind verschlossen und nach 1600 Kilomentern landet Saroo in Kalkutta. Da er den Namen seines Heimatorts oder dessen Bezirk nicht kennt, und er nur Hindi versteht, in Kalkutta aber Bengali gesprochen wird, treibt er sich ganz allein mehrere Wochen durch die pulsierende Großstadt, entgeht mit Glück allerlei Gefahren, bis er (durch die Polizei) in ein städischen Heim eingewiesen wird. Doch auch hier hat er Glück und wird – nachdem die öffentliche Suche nach Mutter oder Heimatort  erfolglos bleibt –  von dem wohlhabenden australischen Ehepaar Sue und John Brierley zusammen mit einem weiteren Waisenjungen adoptiert.

Saroo wächst so als junger Australier wohlbehütet und glücklich auf.  Später besucht er eine Hotelfachschule in Melbourne. Bei einer Party erinnert ihn der Anblick eines indischen, süßen Gebäck-Kringels an seine Kindheit und in ihm erwacht die unwiderstehliche Sehnsucht nach seiner wahren Famile und Heimat. Mit Hilfe von Google-Earth sucht er dieses Heimatdorf, identifizierbar für ihn durch das Muster der Bahnhofsgeleise und eines Wasserturms. Er steigert sich in diese Heimatgefühle so übermäßig, daß er seine Freundin Lucy vernächlässigt und auch seine australischen Eltern zu deren Kummer meidet. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelingt es ihm eines Nachts, auf seinem Laptop mit Hilfe von Google sein Heimatdorf zu erkennen. Er reist dorthin und kann nach über zwanzig Jahren seine leibliche Mutter in die Arme schließen.

Der australische Regisseur Gareth Davis erzählt diese  Geschichte linear und schnörkellos in opulenten Bildern. Die erste Stunde zeigt den kleienen Saroo ( Sunny Pawar) in seiner ländlichen, aber armseligen Heimat und im kalt-brutalen Kalkutta mit seinen zwielichtigen Gestalten. Gesprochen wird ausschließlich in indischen Dialekten (entsprechend untertitelt). Ohne größere Überleitung schließt sich der zweite Teil an, der nun den erwachsenen Saroo (Dev Patel) als „normalen“, westlichen Studenten der Hotelfachschule zeigt, sowie dessen plötzliche Gefühls-Anwandlungen für seine indische Abstammung und Identität., Diese  inneren Kämpfe mit sich und seinen australischen Eltern und Freunden werden in etwas zu langen Sequenzen  und  mit viel pathetischer (Musik-)Untermalung durchdekliniert, während  das Wiedersehn mit Heimat und Mutter ziemlich knapp, wenn auch tränenreich (für Darsteller wie Publikum!) geschildert wird.

Der Film beruht auf Tatsachen – im Abspann sind die Fotos der echten Personen zu sehen. Die Darsteller auf der Leinwand sind so überzeugend wie beeindrckend: der indische Kinderstar Sunny Pawar durch seine Natürlichkeit, der „erwachsene“ Dev Patel durch seine Wandlungsfähigkeit sowie Nicole Kidman als liebeswert-herzliche Adoptivmutter. Markante  Panoramen und Interieurs kontrastieren effektvoll das Leben in Indien und Australien. Verstärkt durch geschickt eingesetzte Musik mit westlichen wie indischen Tönen  wird  diese von Australien produzierte „Lange Reise nach Hause“ (so der deutscher Untertitel)  zum ausladend-üppigen Gefühls-Kino nach bewährter Hollywood-Art.

Poster / Verleih: Universum Film GmbH

zu sehen: Blauer Stern Pankow; Capitol Dahlem; CinemaxX Potsdamer Platz; Titania Palast Steglitz; Cubix Alexanderplatz; CineStar Sony Center (OV); CineStar Tegel; Delphi; Filmkunst 66 (OmU); Filmtheater am Friedrichshain; Hackesche Höfe Kino (OmU); Kant-Kino; Kino in der Kulturbrauerei (dt. und OmU); Rollberg (OmU); Yorck

Weichgezeichnet: ‚Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen‘ von Theodore Melfi***

23. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

Hidden FiguresAnfang der 1960er Jahre kam es zum Wettlauf zwichen der USA und der Sowjetunion, wer zuerst eine bemannte Rakete zu einer Erdumrundung starten könnte. Im April 1961 gelang dies den Russen. Daraufhin stand die amerikanische Weltraumbehörde NASA unter erhöhtem Druck – zumal der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt angelangt war.

Bei der NASA in Virginia arbeiteten auch schwarze Frauen als überprüfende Rechnerinnen der vom ausschließlich weißen Männer-Kollektiv erarbeiteten Daten, die den geplanten Flug einer Atlas-Rakete mit dem Piloten John Glenn ermöglichen sollten. Da jedoch noch die Rassengesetze galten, mußten die farbigen Frauen in abgetrennten Büro-Komplexen arbeiten. Die Berührungspunkte mit den weißen Wissenschftlern sollten auf ein Minimum reduziert werden. Doch drei der schwarzen Mathematikerinnen erwiesen sich als so außergewöhnlich begabt und erfinderisch, daß sie trotz aller Vorurteile gegenüber Frauen und trotz der diskriminierenden Apartheits-Gesetze aus pragmatischen Gründen in die männlichen Wissenschafts-Teams aufgenommen – wenn auch nicht entsprechend dienstrechtlich befördert wurden.

Die Geschichte dieser drei „Unerkannten Heldinnen“ – Katherine Johnson, Dorothy Vaughan, Mary Jackson – ezählt der oscarnominierte Film  von Regisseurs Theodore Melfi – zwar auf Tatsachen beruhend, aber dramatisiert und ausgeschmückt nach den bewährt-gefälligen Regeln des Hollywood-Kinos. Die drei Damen sind nicht nur hübsch anzusehen und hoch-elegant gekleidet, sondern haben auch immer den passenden Spruch auf der Zunge, wenn ihnen mal wieder ein schoofliger weißer Kollege, die Türe vor der Nase zuknallt oder sich weigert, sich aus der selben Kaffeekanne zu bedienen. Nüchtern, fast dokumentarisch fallen die Szenen aus, die die Vorbereitung zum Raumflug betreffen oder die zeigen, wie erstmals ein Groß-Computer  installiert und programmiert wird – natürlich nicht ohne die entscheidende Hilfe der farbigen Wissenschaftlerinnen. Problematisch aber sind die Szenen, die das Privat- und  Familienleben der Frauen schildern (besonders das von Katherine Johnson): da wird der Film zur verkitschten Soap-Opera und zum süßlichen Wohlfühl-Kino.

Dennoch: der historische Blick zurück auf die Zeit vor dem „Civil Right Act“, der 1964 die Rassentrennung formal aufhob, lohnt sich, zumal bis heute die Gleichstellung der Geschlechter weder erreicht noch die Rassen-Ressentiments verschwunden sind. Und daß der Film so ansehenswert und unterhaltsam ist, verdankt er vor allem den mitreißenden Spiel und Temperament seiner drei wunderbaren Darstellerinnen: Taraji P.Henson als Katherine Johnson. Octavia Spencer als Dorothy Vaugham und Janelle Monáe als Mary Jackson.  

Von den drei „Hidden Figures“ lebt nur noch Katherine Johnson, sie erhielt als einzige für ihre Leistungen die „Presidential Medal of Freedom“ – im Jahr 2015 von Barack Obama! 

Poster / Verleih: Fox Deutschland

zu sehen: Astor Film Lounge; b-ware!-ladenkino (dt. und OmU); Capitol Dahlem; CinemaxX Potsdamer Platz; Titania-Palast; CineStar Treptower Park; Cubix Alexanderplatz; CineStar Sony Center (OV); CineStar Tegel; Kino in der Kulturbrauerei /dt. und OmU); Kino Spreehöfe; Rollberg (OmU); UCI Colosseum; Zoo-Palast

Black Family: ‚Fences‘ von Denzel Washington***

22. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

FencesEin überwiegend von Schwarzen bewohnter Vorort von Pittsburgh in den späten 1950er Jahren. Troy Maxson (Denzel Washington), beschäftigt bei der Müllabfuhr, ist seit 18 Jahren mit Rose (Viola Davis) verheiratet. Sie haben einen gemeinsamen Sohn, Cory (Jovan Adepo), der noch zur Schule geht und sich dort als großes Football-Talent profiliert. Die Familie wohnt in einem bescheiden Haus mit Hinterhof und Gärtchen darin, manchmal schaut Lyons (Russell Hornsby), der Sohn aus Troys erster Ehe, vorbei um sich vom Vater Geld zu leihen, da seine Musiker-Karriere kaum etwas einbringt. Außerdem wohnt noch Troys Bruder Gabriel (Mykelti Williamson) in der Nähe, durch eine Gehinverletzung im 2.Weltkrieg zwar geistig behindert, aber in seinem Wesen und Gehaben harmlos ist. Eine scheinbar ganz normale. schwarze Familie, erst langsam tun sich Risse auf, erweist sich Troy als zwar unterhaltsam-eloquenter, aber auch brutal-autoritärer Vater. Er verhindert eine mögliche Sportkarriere seines Sohns – ob aus Sorge (noch werden Schwarze diskriminiert) oder Eifersucht (er selbt stand einst vor einer Sportler-Laufbahn) bleibt offen. So baut er einen Holz-Zaun um seinen Hof – Symbol für Schutz wie Abwehr.  Zur Katastrophe kommte es, als Troy seiner treue Rose gestehen muß, ein Verhältnis mit einer anderen Frau zu haben, die bei der Geburt eines Mädchens starb und er nun dieses Baby in den Haushalt aufnehemen muß. Die Familie zerbricht – auch wenn Rose die Reste noch mühsam zusammen hält. „Fences“ ist ein erfolgreiches Theaterstück des afro-amerikanischen Autors August Wilson, 1985 uraufgeführt. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis und vielfach am Broadway gespielt – zuletzt von Hollywood-Star Denzel Washington, der jetzt auch den Film mitproduziert hat, zugleich Regie führt und die Hauptrolle spielt. Seine Inszenierung hält sich eng an die Theatervorlage und verzichtet somit auf die dem Kino eigenen Möglichkeiten. Dafür triumphiert der Film mit großer Schauspielkunst – sprachlich wie mimisch. Natürlich steht der oft in Blockbustern unterforderte Denzel Washington im Mittelpunkt, stattet dieses schwarze Familienoberhaupt mit vielen feinen Nuancen aus: sein Stolz, auf das von ihm errungene Heim, auf  Ehefrau, Kinder und Nachbarn – und all das trotz der immer noch existierenden Apartheit in Amerika. Aber auch die Selbstüberschätzung, die Uneinsichtigkeit gegenüber den Bedürfnissen seiner Frau und Kinder, die Selbstgerechtigkeit bis zu seinem tödlichen Schlaganfall. Ihm ebenbürtig in ihrer Präsenz: die Ehefrau Rose der Viola Davis. Im Stück eher als passiv-unterwürfiger Charakter angelegt, verleiht sie dieser Rose große Kraft und viel Temperament sowie eine erstaunliche menschliche Würde. Die übrigen Darsteller ergänzen das Ensemble trefflich. Kein filmisch bedeutendes Opus, aber mitreissendes Schauspieler-Theater. Oscar-Nominiert.

Poster / Verleih: Paramount Pictures Germany

zu sehen: b-ware! ladenkino (dt.und OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; CineMotion Hohenschönhausen; CineStar Potsdamer Platz (OV); Eva-Lichtspiele (dt. und OmU); Filmkunst 66 (dt. und OmU); Kino in der Kulturbrauerei (dt. und OmU); Sputnik (dt. und OmU); UCI Friedrichshain; Union Filmtheater

Sex und Gewalt: ‚Elle‘ von Paul Verhoeven***

18. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

ElleMichelle Leblanc (Isabelle Huppert) ist die taffe, nicht mehr ganz junge Chefin eines großen Unternehmens für Compter-Spiele, ebenso pragmatisch wie schlagfertig. Geschieden, lebt sie allein in ihrer großen Pariser Villa. Eines Tages dringt ein maskierter Mann ein und vergewaltigt sie. Doch entgegen dem Rat ihrer engeren Freunde zeigt sie die Tat nicht bei der Polizei an , sie will selbst den Täter aufspüren. Als dieser seine Tat einige Zeit später zu wiederholen versucht, gelingt es Michelle, ihn zu demaskieren. Doch sie geht immer noch nicht zur Polizei, sondern beginnt mit diesem (attraktiven) Mann ein gewagtes Spiel, bei dem sexuelle Fantasie und Gewalt undurchschaubar miteinander verwoben sind. Am Ende bleibt Michelle jedoch die coole Siegerin.

Nach längerer Auszeit meldete sich der inzwischem 77-jährige Regisseur Paul Verhoeven („Basic Instinct“) mit dieser französischen Romanverfilmung beim Festival in Cannes zurück. Als „Erotik-Thriller“ angepriesen changiert das Werk elegant zwischen den Genres, zeigt brutale, sexuell aufgeladenen Szenen neben grotesker Gesellschafts-Satire, entäutscht gezielt und provokant Zuschauer-Erwartungen und mixt raffiniert Spannung und Schaulust.

Gebündelt und zusammengehalten werden die unterschiedlichen Facetten in der Figur der Michelle, die in Isabelle Huppert die ideale Verkörperung findet.  Nach außen hin die ruhige, selbstsichere Unternehmerin, die auch mit dem etwas beschränken Sohn und ihrer eigenwilligen, an jungen Männern interessierten Mutter souverän umzugehen weiß. Innerlich jedoch vom Trauma geprägt, als 10jähriges Mädchen den in ganzen Land bekannten, mörderischen Amoklauf ihres Vaters verkraften und – durch harte Arbeit und Selbstdisziplin – überwinden zu müssen. Isabelle Hupperts Michelle spielt eine schillernde Persönlichkeit von lässiger Eleganz und überlegener  Intelligenz,  die aber zugleich unschuldig-mädchenhaft erscheinen kann und einen Rest von Geheimnis bewahrt – vielleicht ihr selbst nicht bewußt.

Um sie herum ein exzellentes Darsteller-Ensemble, prägnant in jeder noch so kleinen Rolle, darunter auch der Berliner Christian Berkel – der hier allerdings ’nur‘ den Partner ihrer Geschäftsfreundin und dummen Sex-Protz mimen darf.

In Cannes wurde nach der Premiere von „Elle““ viel über Feminismus und Männlichkeits-Fantasien gestritten. Diese Diskussion dürfte auch den deutschen Kino-Start begleiten, doch damit erfüllt sich zugleich eine zentrale Absicht des Regisseurs, nämlich Kontroversen auszulösen  – zu welchem Aspekt des Film auch immer.

Poster / Verleih: MFA

zu sehen: Cinema Paris (dt. und OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; Eiszeit am Wrangelplatz (OmU); Filmtheater am Friedrichshain; fsk Oranienplatz (OmU);Hackesche Höfe Kino (OmU); Kino in der Kulturbrauerei (dt. und OmU); Moviemento (dt. und OmU); Rollberg (OmU); Yorck

 

 

Berlinale 2017 : Mein Tagebuch

10. Februar 201724. Juni 2018BerlinaleNo Comments

baer

Foto:H.Basse

  1. DJANGO von Etienne Comar (Frankreich)**

Biopic über den Jazz-Gitarristen Danjo Reinhardt. Dieser (erste) Spielfilm des Franzosen  Etienne Comar, der zuvor vor allem als Produzent und Autor gearbeitet hat, konzentriert sich auf die Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Der Sinti Django Reinhardt feiert mit seinem Quintett in Pariser Konzerthallen Triumphe und glaubt sich deshalb vor den deutschen Besatzern sicher. Doch er muß erkennen, daß dies ein Trugschluß ist. Auf Rat einer befreundeten Nachtclubsängerin flüchtet er mit seiner Mutter und mit seiner schwangeren Frau in die Nähe der Schweizer Grenze in ein „Zigeuner“-Lager am Genfer See. Bald wird er von den Nazis erkannt und verhört und muß für ein pompöses, von den Offizieren veranstalteses Fest in einer Villa aufspielen, was jedoch katastophal endet.  Ob die Flucht  – zu Fuß und unter Zurücklassung von Frau und Mutter – durch die winterlichen Berge in die neutrale Schweiz gelingt, bleibt offen. Im kurzen Epilog, der nach dem Ende des Kriegs spielt, dirigiert Reinhardt in seinem frnzösischen Fluchtort ein von ihm komponiertes „Requiem“ für die ermordeten Sinti und Roma (ein Musikwerk, das lange als verschollen galt). Der Film erzählt diesen Lebensabschitt des berühmten Musikers in gedeckten Farben und konventionellen Bildern. Die angeschnittenen Themen (politische Blindheit, individuelles Verhalten gegenüber Diktaturen, Kollaboration) werden kaum vertieft oder weiterentwickelt. Der Film gleicht seiner dargestellten Hauptfigur : blass und glatt. Ein spannendes (nicht nur) historisches Thema, jedoch nur routiniert und oberflächlich bebildert.

Deutscher Filmstart: 27.7.2017

 

2. THE DINNER von Oren Movermann (USA)**

Der ehemalige Lehrer und Historiker Paul Lohman (Steve Coogan) und seine Frau  Claire (Laura Linney) treffen sich mit dessen Bruder Stan (Richard Gere), einem Kongreß-Abgeordneten, der kurz vor der Wahl zum Gouverneur steht, und dessen Frau Barbara (Rebecca Hall) zum Abendessen in einem Luxusrestaurant in der Nähe von New York. Grund: deren beider halbwüchsigen Söhne haben  – alkohlisiert – eine in einem Geldautomaten-Kiosk schlafende Obdachlose angezündet. Was tun? Sind die Kinder Monster oder um ihrer Zukunft willen (mütterlich) zu schützen? Würde das bisher unaufgeklärte Verbrechen die kommende Wahl Stans unmöglich machen? Soll er damit an die Öffentlichkeit gehen? Der Film ist im Grunde ein Kammerspiel, ähnlich dem erfolgreichen Theaterstück „Gott des Gemetzels“, doch der aus Israel stammende Regisseur Oren Movermann macht daraus ein temporeiches Kaleidoskop, das sich aller denkbaren filmischen Kunstgriffen virtuos bedient (Rückblenden, Innere Monologe, verzerrte Bilder- und Ton-Folgen usw.). Dazu reichert er die literarische Vorlage (einen niederländischen Bestseller) um politische Töne an und zeichnet so ein böse-schillerndes Bild der gegenwärtigen USA : zwischen Gesellschafts-Satire und  Politdrama. Doch er packt ein Zuviel an entlarvenden  Aspekten dem Kammerspiel auf, der Film wirkt oft überdreht und selbstgefällig und unterläuft so – trotz formaler Reize – seine eigene, kritische Absicht.

Deutscher Kinostart: 19.10.2017

 

3. T2 TRAINSPOTTING von Danny Boyle (GB)*** – außer Konkurrenz

1996 errang der britische Regisseur (und Oscar-Preistrager) Danny Boyle mit der kongenialen Verfilmung des Drogen-Romans „Trainspotting“ einen großen, internationalen Erfolg. Jetzt, 20 Jahre danach, hat er sich eine Fortsetzung erdacht, eine Wiederbegegnung mit den „Neuen Helden“ (so der deutsche Verleih-Titel einst), wobei Milieu und Haupt-Personen (und deren Darsteller) geblieben sind – nur eben zwei Jahrzehnte älter.  Mark Renton ( Ewan McGregor), der am Ende des alten Film mit viel geklautem Geld nach Amsterdam entschwand, kehrt nun ins schottische Edinburgh zuück, in jenes schäbige Viertel mit Drogen-Kneipen und Sex-Clubs, wo jedoch inzwischen die billig errichteten Neubau-Mietstürme schon wieder abgerissen werden. Die alten Kumpel ( Ewen Bremner, Jonny Lee Miller, Robert Carlyle) sind immer noch da, rauh und herzlich, geprügelt und gekockst wird auch noch heftig, und so erlebt Mark sein altes Revier wieder als anarchisch-schräge Welt aus Sex und Drogen, allerdings ganz schön nostalgisch verschleiert. Auch die Tonspur mischt viel Retro unter die dröhnende Musik. Die junge und sexy Migrantin aus Osteuropa läßt sich zwar für einige Erpressungsversuche an geilen Herrn geschick einsetzen, aber am Ende verläßt sie trotz aller rasanten Drogenräusche und wild erfundenen  Familen- und Freundschafts-Geschichten den schottisch-kauzigen, turbulentn Kiez: schön war die Zeit. aber die Wohnungen sind halt marode. Und die Zukunft?

PS. Das „T2“ im Titel ist Anspielung auf Arnold Schwarzeneggers „Terminator 2“.

Deutscher Kinostart: 16.2.2017

 

 

4. FINAL PORTRAIT von Stanley Tucci (USA)** – außer Konkurrenz

Der amerikanische Kunstkritiker James Lord lernt Anfang der 1960er Jahre den Bildhauer und Maler Alberto Giacometti in Paris kennen und sitzt ihm – auf Wunsch des Künstlers – für ein Porträt Modell. Diese Sitzungen ziehen sich länger als von Lord erwartet hin, so daß er seine geplante Rückkehr nach New York immer wieder verschieben muß. Denn: Giacometti ist ständig unzufrieden mit dem Bild, übermalt es, setzt von Neuem an, bis nach 20 Tagen James Lord dem ein Ende setzt und abreist. (Später schreibt er eine Biographie über den erfolgreichen Künstler). Bei den Sitzungen lernt er auch den „bohème“-haften Haushalt Giacomettis kennen, seinen Bruder Diego, seine Frau Annette, einst Modell der Statuetten, und die gegenwärtige Geliebte Caroline, eine Prostituierte, deren Zuhälter viel Geld von Giacometti erhalten. Gelegentlich wird in einem benachtbarten Lokal gespeist und getrunken, manchmal erfrischen sich Maler und Model bei Spaziergängen über den nahen Friedhof, wobei Giacometti seine rigiden Ansichten über Künstlerkollegen preisgibt. – Die Farben dieses Films des amerikanischen Regisseur (und Schauspielers) Stanlay Tucci sind stark ausgebleicht, die Erzählweise bleibt konservativ und rückt stehts nahe an die Darsteller heran. Giacometti wird von dem australischen Schauspieler Geoffrey Rush gemimt: als grauer, kauziger Wuschelkopf, der sehr selbtbezogen, aber nicht ohne Witz sein jeweiliges Gegenüber  kommandiert. Armie Hammer ist der schöne Kunstkritiker Lord mit dem ebenmäßigen Gesicht, der aus Neugier (und Eitelkeit?) sich porträtieren läßt und alle Launen den Künstler deshalb geduldig hinnimmt. Manche  Einzelheiten über den Künstler sind interessant oder erhellend, insgesamt aber bedient dieses Bio-Pic auf Grund seine Machart allzu sehr bekannte Film- und Kunst-Klischees.

Deutscher Kinostart: voraussichtlich 20.7.2017

 

 

5. WILDE MAUS   von Josef Hader (Österreich)***

Georg ist Musik-Kritiker-Star einer Wiener Tageszeitung. Doch eines Tages wird er aus Spargründes – wie der Chef sagt –  entlassen. Aus Wut und Scham verschweigt er den Job-Verlust seiner Frau Johanna, die als selbständigeTherapeutin arbeitet (mal mehr oder weniger erfolgreich). Georg vertrödelt ratlos seine Tage nun  mit Spaziergängen im Prater, wo er auf  den halbseidenen Erich, einen ehemaligen Mitschüler,  stößt und mit ihm (und seinem Geld) eine marode Achterbahn wieder zum Laufen bringt: die ‚Wilde Maus‘. Gleichzeitig versucht er sich an seinem ehemaligen Chef zu rächen, steigert sich dabei in seinen unterschiedlichen Mitteln (Messer,Schlagstock,Pistole) geradezu in einen Racherausch, der groteskerweise bis zu einem Morbversuch in einer Ski-Hütte führt – aber mißlingt. Auch die Beziehung zu Johanna, die sich mit ihren 43 Jahren immer noch von einem Kind träumt, bricht so langsam auseinander  – oder doch nicht?  Der Schauspieler und Kabatrettist Josef Hader hat – mit sich selbt in der Hauptrolle – für seinen ersten Spielfilm eine ebenso tragische wie komische Geschichte erdacht. Mit schlagfertigen Dialogen und kabarett-erfahrenen Schauspielern. Turbulente Szenen aus dem „weanerischen“ Alltag, mal grotesk, mal melancholisch. Nicht jeder Witz zündet, nicht jeder Szenen-Einfall überzeugt. Aber die pfeilspitzen Seitenhiebe auf den bürgerlichen Kultur- und Gesellschaftsbetrieb und die  prächtigen östereichischen Winterlandschaften, in denen der revoltierende Unglücksvogel auf komischste Weise zu „ersaufen“ droht, bieten doch zwei Stunden intelligent-gefällige Unterhaltung – mehr aber nicht!

Deutscher Kinostart: 9.3.2017

 

6. POKOT von Agnieszka Holland (Polen)**

Ein Dorf in der polnischen Provinz. Die vielen Tiere in der berg- und waldreichen Umgebung machen die Jagd zum verbindenden und bestimmenden Gemeinschafts-Ritual. Eine ältere Frau, einst Ingenieurin im Ausland und jetzt gelegentlich als Aushilfs-Lehrerin für Englischunterricht tätig, engagiert sich für diese Rehe, Wildschweine oder Füchse und versucht mit Anzeigen bei der Polizei die brutale Abschlachterei zu verhindern – vergeblich. So greift sie – unterstützt von ein paar Einzelgängern und Sonderlingen – zu härteren Gegenmitteln… Nach einer literarischen Vorlage schildert die bekannte polnische Regisseurin Agnieszka Holland (nach ihrer Rückkehr aus Hollywood) mit viel filmischer Routine und auch einigem Humor diesen Kampf einer Natuschützerin gegen die provinzielle Gesellschaft und ihre geistige Borniertheit. Doch bleibt der Film recht oberflächlich, delektiert sich an schönen Natur- und Tierbildern, während die politischen oder sozialen Amplikationen ziemlich klischeehaft wirken. Putzig statt bissig!

 

 

7. VICEROY’S HOUSE von Gurinder Chadha (GB)*** – außer Konkurrenz

1947 trifft Lord Mountbatten in New Delhi ein, als letzter englicher Vizekönig soll er den Subkontinent in die Unabhänigkeit führen. Auf zwei Ebenen werden diese sechs letzten Monate der britischen Herrschaft über Indien erzählt. In den punkvollen Salons debattieren Lord Mountbatten und  sein Hofstaat mit verschiedenen indischen Politikern (Gandhi, Nehru, Jinnah) die Form des neuzuschaffenden Staates; in den bescheidenen Wohnungen der Bediensteten versucht ein Diener-Liebespaar seine Zukunft zu gestalten, er ein Hindu, sie eine Muslima. Denn der ganze Kontinent wird von gewalttätigen und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus, Sikhs und Muslimen schier zerissen. Am Ende setzt sich der „Mountbatten-Plan“ durch: die Teilung in zwei Staaten, das islamische Pakistan und das hinduistische Indien, ein Millionen-Flüchtlingsstrom von Umsiedlern ist die böse, bis heute nachwirkende Folge. Doch diese politische Dimension ist nur Hintergrund für einen üppigen Ausstattungs-Film mit prachtvollen Kostümen, exotischen Szenerien und schönen Menschen. Die meisten Darsteller gleichen eleganten Komparsen, nur Lord und Lady Mountbatten erhalten individuelles Profil, vor allem durch die schauspielerische Feinzeichnung von Hugh Bonneville und Gillian Anderson. Die britische Regisseurin Gurinder Chadhas („Kick it like Beckham“) verrät im Abspann, daß auch sie einer Familie entstammt, die zu den 16 Millionen Umsiedlern gehörte.  Deshalb dieser opulente Historienfilm in Form eines großangelegten Kino-Spektakels.

Deutscher Kinostart: 8.6.2017 unter dem Titel: „Der Stern von Indien“

 

8. HELLE NÄCHTE von Thomas Arslan (BRD)***

Michael, Bauingenieur in Berlin, lebt getrennt von seiner Frau und seinem 14-jährigen Sohn Luis. Jetzt ist sein in Norwegen lebender Vater gestorben, zur Beerdigung und zur Regelung des Nachlasses reist er mit Luis dorthin. Es ist Sommer und die Nächte sind im hohen Norden durchgehend hell. Michael, der weder zu seinem gestorbenen Vater noch zu seinem Sohn, ein engeres Verhältnis hatte, beschließt deshalb mit dem schweigsam-abweisenden Luis nach der Beerdigung ein paar Tage durch die grandiose Landschaft Norwegens (mit dem Mietauto) zu fahren und/oder zu wandern. In der Hoffnung einer Annäherung zwischen ihm und seinem Sohn. Filmisch ein Roadmovie mit langen Kamerafahrten durch die gigantischen Berg-und Fjord-Landschaften, zwischen diesen eindrucksvollen (Reise-)Bildern, dazwischen kurze Szenen mit dem sich anschweigenden Vater-Sohn-Paar. Erst ganz am Ende gelingt eine stumme Umarmung. Eine minimalistische Inszenierung der Berliner Regisseurs Thomas Arslan, der schon mehrere Arbeiten auf der Berlinale zeigte. Die „Hellen Nächte“ sind zwar mit dem österreichischen Schauspieler Georg Friedrich und dem aus „Tschick“ bekannten jungen Tristan Göbel gut besetzt, doch vermag der Film es nicht, eine tiefere Beziehung  zwischen der grandiosen nordischen Natur und der inneren Entwicklung des Vater – Sohn – Verhältnisses herzustellen. Symphatisch aber spröde.

Deutscher Kinostart: vorraussichtlich im Herbst 2017

 

9. THE PARTY von Sally Potter (GB)***

Janet (Kristin Scott Thomas) ist gerade zu Gesundheitsministerin im Schattenkabinett der Labour-Party ernannt worden. Das will sie nun in ihrem Londoner Reihenhaus mit ihrem Mann Bill (Timothy Spall) und einigen engeren Freunden feiern. Doch die Party geht gründlich daneben, die flotte Riege von sieben gut betuchten Alt-Linken überrascht sich gegenseitig mit allerlei unfreiwilligen Enthüllungen. Es geht um sexuelle Seitensprünge, um Furcht vor einer möglichen Krankheit, es macht sich Angst breit vor einer Trennung sowohl beim Gastgeber-Ehepaar wie bei den beiden lesbischen Freundinnen (Cherry Jones, Emily Mortimer). Der junge Banker-Freund (Gillian Murphy) – dessen Gattin Janets Assistentin ist und die ihr Fernbleiben zunächst entschuldigen läßt, – dieser hypernervöse Finanzmann kokst, versteckt seine Pistole erst im Abfalleimer und dann im Bad, während Janets beste Freundin April (Patricia Clarkson), deren deutscher Mann (Bruno Ganz) trefflich salbadert, für alles und jeden den passenden zynischen Spruch auf den Lippen hat. Die britische Regisseurin Sally Potter, die auch das Buch verfasste, hat in Schwarz-Weiß gedreht und steigert das ironisch-unterhaltsamen Kammerspiel rasch zur turbulent-überdrehten Farce mit gepfefferten Dialogen und sieben gestandenen Schauspielern, die „ihrem Affen Zucker geben“ dürfen und dies auch zur Freude des Publikums weidlich ausnutzen. Ein britischer Komödienstadl für intellektuelle Zeitgenossen

Deutscher Kinostart: noch offen

 

10. BEUYS von Andres Veiel (BRD)***

Der Regisseur Andres Veiel („Blackbox BRD“) und sein Team montieren aus zahlreichen, alten Dokumentaraufnahmen ein liebevolles Porträt von Joseph Beuys. Erstaunlich, wie viele, auch bis dato kaum bekannte Fotos, Ton-und Filmdokumente er in deutschen und internationalen (vor allem US-) Archiven aufgefunden hat. Das daraus zusammengeschnittene Porträt des Künstlers ist nicht streng biografisch angelegt, sondern gliedert sich nach den unterschiedlichen Aspekten, zeigt ihn als nachdenklichen Kunst- und Lebens-Theoretiker, als schlagfertigen Diskutanten vor TV-Kameras und Mikrofonen, als engagierten Lehrer an der Düsseldorfer Akademie – auch im Streit mit der Staatsbürokratie, als engagiertes Mitglied der neuen Partei der Grünen. Fünf Freunde (darunter Klaus Staeck) versuchen in kurzen, dazwischegeschnittenen  Statements Charakter und Anschauungen von Beuys über seine Auffassungen von Kunst, Moral und Politik zu erläutern. Auf alle weiteren Kommentare verzichtet der Regisseur. Keine journalistische oder gar kritische Auseinandersezung mit Beuys und seiner Kunst (und deren Auswirkung), sondern eine attraktive, nach formal-ästhetischen Regeln geschnittene filmische Huldigung eines der bedeutensten deutschen Künstlers in der 2.Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Deutscher Kinostart: 1.6. 2017

 

11. SAGE FEMME von Martin Provost (Frankreich)***- außer Konkurrenz

Diese französische „Sage Femme“, zu deutsch Hebamme, ist keine Kandidatin für ein ehrgeiziges Kino-Festival, sondern ein freundlicher, auch nachdenklicher Film für den Familienbesuch am Sonntag Nachmittag. Catherine Frot spielt die fast 50jährige Hebamme Claire, wohnhaft in der Nähe von Paris, als patente, freundliche Frau, mit studierendem Sohn und hübschem Schrebergarten. Bis sich Beatrice meldet, die ehemalige Geliebte ihres verstorbenen Vaters, jetzt eine ältere, doch immer noch attraktive Zockerin, die Steaks mit Majonnaise und Rotwein schätzt, ständig raucht und der soeben ein Hirn-Tumor diagnostiziert wurde. (Eine tolle Rolle für die souverän agierende Catherine Deneuve.) Obwohl Claire zunächst nichts mit Beatrice zu tun haben will, werden – entsprechend dem erfolgreichen französischen Filmrezept – beide mit der Zeit beste Freundinnen. Und es macht Spaß den beiden Schauspielerinnen zuzuschauen und mit ihnen die ganz alltäglichen Probleme vom Kinderkriegen über Garten- und Liebesfreuden bis zur Altersarmut und Einsamkeit nach zu erleben. Ein wenig Sentimentalität darf dabei nicht fehlen, aber die menschliche Wärme, die diese beiden Diven in den Alltags-Klamotten und -Sorgen ausstrahlen, stimmt heiter und versöhnlich.

Deutscher Filmstart: 8.6.2017 unter dem Titel: „Ein Kuss von Béatrice“

 

12. COLO von Teresa Villaverde (Portugal)***

Portugal heute. Eine kleine, adrette Wohnung in einem modernen Mietshaus, darin ein Familie. Der Vater ist arbeitslos, verbringt die Tage auf der leeren Dachterasse, im naheliegenden Park oder am Meer. Die Mutter schuftet in meheren Nebenjobs, die 17jährige Tochter geht noch zur Schule, trifft sich gelegentlich mit einem gleichaltrigen Freund. Geld fehlt, der Strom wirg gesperrt. Doch die schlechte soziale Situation schließt die Familie nicht zusammen, sondern sprengt sie. Jeder der drei beginnt eigene Wege zu gehen. Der Vatre zieht zur Großmutter aus Land, die Mutter sucht genervt neue Jobs, verläßt die Wohnung, die geräumt und vermietet werden soll, die Tochter zieht durch die Stadt, dann in die nur tagsüber benützte Hütte eine Fischers am Tejo… Die portugiesische Regisseurin Teresa Villaverde erzählt diesen Zerfall einer „normalen“ Familie in langen, sorgfältig cadrierten Einstellungen, meist aus einiger Distanz, Der Fluß der Bilder ist sehr langsam, nur gelegentlich durch heftige Gefühlsausbrüche der Personen akzentuiert. Nur ganz dezent wird (klassische) Musik unterlegt. Offen bleibt: ist diese Auflösung der Familie Zeichen der derzeitigen sozial-politischen Situation Portugals oder sind psychologische Ursachen der drei so unterschiedlichen Charaktere die Ursache? In seiner Eigenwilligkeit ein festspielwürdiger Beitrag zur Berlinale.

 

13. RETURN TO MONTAUK  von Volker Schlöndorff (BRD)**

Der deutsche Schriftsteller Max Zorn befindet sich auf kurzer Lesereise in New York, wo seine Frau und Mitarbeiterin Clara auf ihn wartet. Durch Zufall trifft er seine einstige Geliebte Rebecca wieder, jetzt erfolgreiche Rechtsanwältin in Manhattan, und verbringt mit ihr das Wochenende im (winterlichen) Montauk auf Long Island – wie sie beide dies schon einmal vor vielen Jahren getan haben. Alte Erinnerung werden lebendig und die Frage gestellt, ob die damaligen Entscheidungen die richtigen waren. Was hat jeder inzwischen erlebt und erfahren und sind ihre Gefühle noch die gleichen oder haben sie sich geändert und wenn ja, warum? Am Ende: die Rückkehr in die Stadt und nach Deutschland. Volker Schlöndorff hat die Grundkonstellation des bekannten Montauk-Romans von Max Frisch mit eigenen biografischen Erlebnissen verbunden und zusammen mit dem irischen Autor Colm Tóibin daraus ein Drehbuch mit vielen langen Mono- und Dialogen geschrieben. Zwar routiniert und gefällig in Szene gesetzt, doch wirken der Film und seine konservative Machart merkwürdig altmodisch und „riechen“ nach hausbackenem Literatuer-Ersatz. Stellan Starsgard spielt den Schriftsteller Max, strahlt aber wenig intellektuell-männliche Attraktivität aus. Auch Nina Hoss – darstelerisch wie immer vorzüglich – gewinnt als Rebecca keinen festen, runden Charakter – ebenso Susanne Wolf als Clara, – alle Figuren sind keine Personen, zeigen nur deren Umrisse. Das  ehrgeizige, literarisch angehauchten Film-Projekt wird so zur herkömmlichen, mittelmäßigen Kino-Unterhaltung.

Deutscher Kinostart: 11.5..2017

 

14. ANA, MON AMOUR von Calin Peter Netzer /Rumänien)***

Die Liebesgeschichte von Ana und Toma beginnt im Literaturseminar auf der Uni und endet viele Jahre später mit der Scheidung, wobei die Möglichkeit einer Versöhnung offen bleibt. Ana hat ein Problem, sie leidet als junge Frau unter Panik-Attacken (familienbedingt ?), die sie mit diversen Psychopharmaka bekämpft. Toma betreut und beschützt sie liebevoll, begleitet sie zu Ärzten und Psychiatern. Erst als sie ein Kind bekommt, überwindet sie ihre Krankheit. Jetzt aber leidet sie unter der ständigen Fürsorglichkeit Tomas, fühlt sich in ihrer wachsenden Selbständigkeit eingeschränkt. Toma wird darum unsicher, eifersüchtig, am Ende platzt die Ehe. Der rumänische Regisseur Calin Peter Netzer, der mit seinem Film „Mutter und Sohn“ 2013 den Goldenen Bären gewann, erzählt die Beziehungsgeschichte von Ana und Toma fast ausschließlich in Nah- und Groß-Aufnahmen, meist mit der Handkamers aufgenommen und in einer leicht verwirrenden Rückblendentechnik: Toma liegt auf einer Psychoanalytiker-Couch und erinnert sich im Gespäch wie in Erinnerungs-Bildern an die Zeit mit Ana. Am Rande tauchen dabei auch die Eltern der beiden auf: die von Ana klein-, die von Toma groß-bürgerlich, beide Vertreter der alten rumänischen Gesellschaft, wobei Politisches nur vage angedeutet wird. Sehr präsent dagegen agieren die beiden Hauptdarsteller Diana Cavalliotis und Mircea Postelnicu, und lassen differenziert die unterschiedlichen Gefühlszustände im Laufe ihrer Beziehung sichtbar werden. Doch der Film bleibt letzlich sehr privat und – für ein internationales Publikum –  nur eingeschränkt interessant.

Deutscher Kinostart: voraussichtlich im Herbst

 

15. MR.LONG von Sabu (Japan)**

Mr. Long gehört zur Maffia in Taiwan. Er übernimmt einen Killer-Auftrag im fernen und ihm sprachlich unverständlichen Tokyo. Der geht schief. Verwundet flieht er in ein verlassenens Viertel, wo ein kleiner Junge und dessen drogensüchtige Mutter ihm wieder auf die Beine helfen. Er revanchiert sich mit dem Kochen einer delikaten Nudelsuppe. Bald besitzt er mit Hilfe freundlicher Nachbarn eine fahrbare Küche und wird zum gutherzigen Vater einer kleinen Familie. Bis unerwartet die alten Maffia-Kollegen wieder auftauchen… Ein zwiespältiger Film des japanischen Regisseurs Hiroyuki Tanaka (genannt: Sabu), unentschlossen changierend zwischen Gangster-Drama und Klein-Familien-Kitsch. Blut-triefende, surreal überhöhte Killer-Masaker wechseln mit appetit-anregenden Kochkunst-Einlagen und idyllischen Familien-Ausfügen in japanische Freizeitparks Trotz einzelner raffiniert gefilmter Sequenzen (das nächtliche Taipeh, der Killer-Show-Down) entpuppt sich dieser Mr.Long, der Mord- und Küchen-Messer gleich virtuos bedienen kann, als eine sich dramaturgisch unentschlossene, nur mäßig schmackhafte Kino-Mahlzeit.

Deutscher Kinostart: 14.9.2017

 

16. TOIVON TUOLLA PUOLEN von Aki Kaurismäki (Finnland)****

Der junge syrischer Flüchtling Khaled beantragt Asyl in Finnland, der Antrag wird jedoch – einige Zeit später – abgelehnt. Daraufhin versteckt er sich im Hinterhof eines abgelegenen Restaurants, wo ihn dessen Besitzer Wikström, ein ehemaliger Verteter für Hemden und Krawatten, entdeckt und – nach kurzem, handfestem Schlagabtausch – als (günstige) Arbeitskraft beschäftigt. Doch Rechtsradikale lauern dem (illegalen) Flüchtling immer wieder brutal auf… Regisseur Aki Kaurismäki verknüpft die beiden Schicksale des syrischen Flüchtlings und des älteren, finnischen Restaurant-Chefs in einer ebenso einfachen wie treffenden Erzählweise. Der Rhythmus bleibt ruhig, die Bilder  sind einfach und klar, und immer wieder wird dazwischen von finnischen Musikern temperamentvoll gesungen und aufgespielt. Neben den überzeugenden, syrischen „Gast“-Schauspielern greift Kaurismäki auf sein bewährtes Darsteller-Ensemble zurück – auch in kleinsten Nebenrollen – und vermag so das bedrückende (gesamteuropäische) Flüchtlingsproblem dieser Tage mit dem trocken-lakonischen und humorvoll-ironischen Blick des gestandenen Filmemachers auf eine schöne, menschliche Weise aus-zu-balacieren. Ein runder, in sich stimmiger Film und ein wunderbares, anderthalbstündiges Kino-Vergnügen.

Deutscher Kinostart. voraussichtlich 30.3.2017

 

 

 

Einstürtzender Neubau: ‚The Salesman / Forushande‘ von Asghar Farhadi***

8. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

SalesmanMitten in der Nacht müssen die Bewohner eines modernen Mietshauses in Teheran im Eiltempo ihre Wohnungen verlassen: die Wände zeigen plötzlich geräuschvoll Risse, Fensterscheiben zerspringen – die tiefe Baugrube von nebenan unterspült das Fundament. Auch das junge Ehepaar Emad (Shahab Hosseini) und Rana (Taraneh Alidoosti) steht so plötzlich auf der Straße. Beide sind Schauspieler und proben zur Zeit eine Aufführung von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (persischer Titel: „Forushande“) in einer – wie ausdrücklich erwähnt wird – von der Zensur gestatteten Fassung. Einer der Mitspieler vermittelt ihnen vorübergehend eine gerade leergewordene Wohnung, allerdings hat die Vormieterin noch ihre Sachen in einem der Zimmer gelagert. Diese Vormieterin war wohl Prostituierte (obwohl der Wort im Film nie ausgesprochen wird) und nicht alle ihrer Kunden haben den Wohnungswechsel mitbekommen. Folge: Rana, allein zuhause, wird eine Tages, während sie ein Duschbad nimmt, überfallen und am Kopf schwer verletzt. Doch sie weigert sich, aus Scham, den Überfall bei der Polizei anzuzeigen, obwohl ihr Mann Emad sie dazu heftig drängt. Zugleich ist Rana  stark traumatisiert, hat Angst allein in der Wohnung zu bleiben. Emad reagiert erst mit Unverständnis auf Ranas Verhalten, dann mit langsam steigender Wut: er will den unbekannten Angreifer ausfindig machen, der versehenstlich seine Autoschlüssel (in der Wohnung) und damit auch einen dazu gehörenden Lieferwagen (auf der Straße) zurück gelassen hat. Die Suche scheint zunächst erfolgreich, doch als Emad den Unbekannten mittels eines Tricks in die alte, halbzerstörte (aber dann doch nicht ganz eingestürtzte) Wohnung gelockt hat und ihm erstmals gegenübersteht, traut er seinen Augen nicht…

Der iranische Regisseur, der 2011 mit seinem Ehescheidungs-Drama „Nader und Simin“ sowohl den „Goldenen Bären“ wie auch den „Oscar“ gewann, ist auch in seinem neuesten Film sein eigener Drehbuch-Autor. Mit großem Feingefühl und scharfer Beobachtung schildert er auch diesmal, das Zerfallen einer ehelichen Beziehung. Weder Emad noch Rana, die im Theater das Zerbrechen der Familie des Handelsreisenden Willy Lohman abendlich vorspielen, nehmen ihre innere Entfremdung voneinander nicht wahr: Rana zieht sich nach dem Überfall (was dabei tatsächlich geschah, bleibt offen) auf sich selbst zurück, verweigert sich ihm, Emad fühlt sich in seiner Ehre als (Ehe-)Mann gekränkt, steigert sich in Rachegelüste, die jedes moralische Maaß übersteigen. Dieses psychologisch-realistich gezeigte Beziehungsdrama erzählt der Regisseur sehr geschickt im Stil eines Thrillers; gleichzeitig spiegelt er das naturalistische Geschehen in der künstlichen Theaterwelt. Kunstvoll auch Schnitt und Montage einzelner Bilder oder Filmsequenzen, die Symbolisches oder Widersprüchliches andeuten – und indrekt auf soziale und gesellschaftspolitische Verhältnisse im Iran weisen.

Hervorragend das Ensemble der Darsteller, besonders eindrucksvoll das sensible Spiel der beiden Protagonisten, die nie übertreiben und dadurch ihren Charakteren überzeugende Natürlichkeit verleihen.

Doch so klug und überlegen Aasgahr Farhadi dieses moderne Ehedrama im heutigen Teheran gestaltet und es mit viel filmischem Gespür erzählt, dieses Kino-Werk berührt nicht. Der Zuschauer bestaunt seine Kunstfertigkeit und die seiner Darsteller, er nimmt auch einige versteckte Hinweise auf die Situation im Iran zur Kenntnis. Doch die dramaturgische Konstruktion drängt sich zusehr in den Vordergrund, es fehlen die menschliche Dichte und emotionale Intensität von „Nader und Simin“ –  und somit wirkt „The Salesman“ wie der zweite, schwächere Aufguß des älteren Meisterwerks.

„The Salesman“ ist in der Kategorie „Bester ausländischer Film“  für den Oscar 2017 nominiert.

Poster/Verleih: Prokino Filmverleih

zu sehen: u.a. Cinema Paris (dt.); Filmtheater am Friedrichshain (dt.); fsk (OmU); Hackesche Höfe Kino (OmU); Kino in der Kulturbrauerei (dt, und OmU); Yorck (dt.)

Comic-Oper: ‚Petruschka / L´enfant et les sortilèges‘ in der Komischen Oper****

5. Februar 2017TheaterkritikenNo Comments

PetruschkaKomDas englische Regie- und Theater-Ensemble „1927“ (Suzanne Andrade, Esme Appleton, Paul Barritt) landete 2012 mit ihrer Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“ in der Komischen Oper Berlin einen wahren Triumph: die Mischung aus gezeichneten Trickfilmen und live agierenden Sänger-Darstellern begeisterte durch ihr Raffinement und ihre Fantasie. Obwohl die „Zauberer“ aus London danach  zögerten, ließen sie sich auf einen weiteren Versuch ein, ihre Methode an einem weiteren Werk des Musiktheaters auszuprobieren:  diesmal an dem Ballett „Petruschka“ von Igor Strawinsky (1911) und an der Oper „Das Kind und der Zauberspuk“ von Maurice Ravel (1925), beide Stüce jeweils 45 Minuten kurz.  Und wieder war’s ein voller Erfolg, der Publikumapplaus enorm.

„Petruschka“, eigentlich für die berühmten „Ballets Russes“ geschaffen, verzichtet in der neuen Produktion auf die Tänzer. Statt dessen hatten die Regisseure den glänzenden Einfall echte Artisten einzusetzen, was bestens zu dem auf einem Jahrmarkt spielenden Mini-Drama  paßt. Der sadistische Puppenspieler – gezeichnet – läßt drei Puppen lebendig werden: Petruschka – jetzt ein gummibeweglicher Buster Keaton – turnt und purzelt grandios vor der knall-bunten Volksfest-Film-Leinwand, auf der Vöglein schwirren, Menschenmassen grimassieren und Kettenkaruselle sich drehen; seine angeschmachte Akrobatin schwebt elegant hoch oben auf dem Trapetz, bis der Muskelmann eifersüchtig und grob jedes Idyll zerstört, Petruschka tot am Boden liegt – aber sein Geist als hüscher, blaß gemalter Schatten in den Bühnenhimmel entschwebt. Melancholisch und poetisch zugleich.

In Ravels Oper gibt’s statt Artisten echte Opernsänger. Die Leinwand zeigt nun ein vollgestopftes Kinderzimmer, in das die Mutter das böse Kind eingesperrt hat. In seiner Wut zerstört es zunächst Stühle,  Kuckucksuhr oder Geschirr, bis zum Gegenschlag ausgeholt wird, die Teekanne alles überschwemmt, Riesen-Katzen das Kind bedrohen , Bäume lebendig werden, und bis das Kind plötzlich mit einem verletzten Eichhörnchen Mitleid bekommt und so die abenteueriche Fantasie-Reise ein glückliches Ende findet. Wiederum ergänzen sich die gezeichneten Figuren und Schauplätze mit den realen Sängern (auch wenn sie nicht immer gleichzeitig zu sehen sind) höchst raffiniert zu einer vielfarbig-verblüffenden Märchen-Groteske, – gesungen und gezeichnet.

Großes Lob gilt in dieser Aufführung allen Sängern und Musikern, die sich mit großer Disziplin den filmischen Vorgaben präzise einfügen müssen. Nadja Mchantaf singt mit klarem Sopran das Kind, die übrigen Sänger müssen jeweils mehrere der kleinen Rollen übernehmen, darunter bewähren sich Ezgi Kutlu, Talya Liebermann und Brigitte Gellert. Das Orchester musziert blendend, exzellent koordiniert Markus Poschner Bühne und Graben, dirigiert trennschaft und hart akzentuiert Strawinskys „Petruschka“ und läßt den französisch parlierenden Zauberspuk in  vielen Farben kraftvoll schillern.

Ein kurzer Abend – unterhaltsam und effektvoll. Ob und wann diese Methode der Mischung aus Comic-Film und Bühnen-Realität sich erschöpft , diese Frage bleibt jedoch offen.

Foto aus Petruschka: Iko Freese/drama-berlin.de /Komische Oper Berlin

Premiere: 28.Januar 2017, weitere Vorstellungen: 4./8./19.Februar  2017

 

 

Á la Francaise: ‚Maillot/Millepied‘ – Das Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper****

5. Februar 2017TheaterkritikenNo Comments

Daphnis et Chlo photo Yan Revazov Pressfoto 6435Ein Blick über den Rhein – zwei Choreographien zeigen gegenwärtigen Tanz aus Frankreich. Vor der Pause „Altro Canto“ von Jean-Christophe  Maillot, dem Ballett-Chef aus Monte Carlo, dort uraufgeführt im April 2006, danach Maurice Ravels „Daphnis und Chloe“ in einer Interpretation des damaligen Direktors des „Ballet de l´Operá National de Paris“, Benjamin Millepied, vom Mai 2014.

„Alto Canto“  ereignet sich zu frühbarocker Musik – überwiegend Claudio Monteverdi – in einem dunklen, nur von vielen flackernden Kerzen beleuchteten Raum, der fast sakrale Atmosphäre ausstrahlt. Eine lose Folge von abstrahierenden Tänzen für 3 Solisten-Paare und ein 14-köpfiges Ensemble, wobei der Choreograph stark kontrastierende Bewegungs-Abläufe bevorzugt – mal zart und fein, mal kraftvoll und zupackend. Kontraste bestimmen auch die Kostüme von Karl Lagerfeld: die Grenzen der Geschlechter verschwimmen, einige Männer tagen Tütüs, manche Frauen schmale Hosen, alle in gleichen Farben, vorgegeben durch das sanft-dämmrige, rot-goldene Licht. Viele Pas-de-Deux zeigen weitausholende Armbewegungen und oft eine gegeneinander abgespreizte Körperhaltung der Paare, während wirbelnde Ensembles die düstere, kerzenflackernde Bühne durchqueren – ein bißchen zu weihevoll vielleicht das Ganze. Dennoch ausdrucksstark und schön anzusehen.

Ein klarer Gegensatz dann der zweite Teil des Abends, Ravels berühmtes Ballett von 1911 „Daphnis und Chloe“ – eine antike Schäfer- und Götter-Fabel. Doch nichts davon bei Benjamin Millepied. Er zeigt eine stark stilisierte ‚Éducation sentimental‘: ein Mann verliebt sich in eine Frau, muß gegen verschiedene Rivalen und bösartige Gegner kämpfen, um so das glücklichen Ende zu erringen. Der renommierte französische Künstler Daniel Buren (brühmt für deine „Streifen-Bilder“) läßt im hellen Raum immer wieder bunte (streifengerahmte) Elemente aus dem Bühnenhimmel herab- und wieder hinaufgleiten: ein blaues Quadrat, einen gelben Kreis, ein rotes, schräg stehendes Viereck. Die Frauen tragen zunächst knöchellange, weiße Kleider, die Herren  weiße Kniebund-Hosen und Shirts. Erst im abschließenden Teil tauschen alle ihr Kostüm, vereinen sich das Ensemble in blauer, grüner, gelber sowie das titelgebende Haupt-Paar in roter Farbe zu einem rauschenden Tanz-Finale. Millepied bevorzugt eine leichte, fließende Bewegungssprache, neoklassisch grundiert, mit dankbaren Dreh- und Sprung-Sequenzen für die Solisten, unter denen die elfenhafte Elisa Carrillo Cabrera oder der vitale Dinu Tamazlacaru besonders brilliern. (Die einzelner Rollen sind in den verschiedenen Vorstellungen wechselnd besetzt).

Während die Musik zu „Alto Canto“ vom Tonband eingespielt wird, musizieren (Extra-)Chor und Orchester der Deutschen Oper Ravels glitzernd-leuchtende Musik unter dre Leitung von Marius Stravinsky live und sehr klangvoll. Ein – nach längerer Zeit – wieder gelungener Abend des Berliner Staatsballetts, das seine Qualitäten in diesen französichen Übernahme-Choreographien bestens zu beweisen versteht: Poesie und  Eleganz á la Francaise.

Foto: „Daphnis und Chloe“: Yan Revazov /Staatsballlet Berlin

Premiere: 22.Januar 2017, weitere Vorstellungen: 3./ 10./11.Februar 2017

Legende oder Realität ? : ‚Jackie‘ von Pablo Larrain***

2. Februar 2017FilmkritikenNo Comments

JackieAm 22.November 1963 wurde der amerikanische Präsident John F. Kennedy in Dallas/Texas während einer Fahrt durch die Stadt im offenen Auto erschossen, am 25.November fand seine Beerdigung auf dem nationalen Helden-Friedhof in Arlington in Anwesenheit zahlreicher Staatoberhäupter statt – von den TV-Kamers live in alle Welt übertragen. Eine Woche später gab seine Witwe Jacqueline, genannt Jackie, auf dem Sommersitz der Familien in Hyannis Port einem Journalisten ein exklusives Interview, in dem sie ihre Sicht der aktuellen Ereignisse sowie ihrer Zeit als First Lady im Weißen Haus darlegte.

Dieses lange und sehr datailreiche Gespräch mit dem (namenlosen) Journalisten bildet den Rahmen des filmischen Porträts, das der renommierte, chilenische Regisseur Pablo Larrain („No“, „El Club“) und sein Drehbuch-Autor Noah Oppenheim von Jacqueline Kennedy, der wohl bis heute bekanntesten First Lady Amerikas zeichnen. In Rückblenden werden die besprochenen Geschehnisse nachinszeniert, die in opulenten Bildern  Jackies sehr persönliche Sichtweise der historischen Fakten zeigen. Diese Rückblenden-Technik ist in diesem Film jedoch ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig. Und zwar deshalb, weil sie nicht nach klassischem Vorbild streng chronologisch abläuft, sondern dem jeweiligen Gefühlszustand der noch unter Trauer-Schock stehenden Witwe entspringt. Also zeitlich mal vor- mal zurück springt, oder auch das selbe Ereignis mehrmals oder aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt  Mal ist sie die elegante First Lady, mal die verzweifelte Trauernde, mal die verstörte Mutter, mal die ehrgeizige Witwe, die das geschichtliche Erbe der Kennedys ein-ordnet. „Jackie“ wird so zu einem Porträt aus vielen unterschiedlichen Facetten dieser Frau. Vieles bleibt offen oder rätselhaft, ein psychologisch eindeutiges Bild ergibt sich nicht. Mal erscheint sie unsicher und naiv, mal sehr selbstbewußt und bestimmend. Sie hat während der kurzen Amtszeit ihres Mannes, das Weiße Haus zum glamourösen Mittelpunkt gemacht, Künstler und Wissenschaftler eingeladen, glanzvolle Konzerte und rauschende Partys arrangiert, sie hat versucht ihrem von der tödlichen Kugel getroffenen Mann die auslaufende  Gehirn-Masse im Kopf zurück zu halten, sie erlebte auf dem Rückflug von Dallas nach Washington noch völlig unter Schock die rasch arrangierten Vereidigung Lyndon B.Johnsons zum neuem Präsidenten der USA, und sie arrangierte gegen vielfachen und heftigen Widerstand das Begräbnis ihres Mannes als großen Staatsakt nach dem Vorbild eines Abraham Lincoln. Und versucht kurz darauf im Exklusiv-Interview so klug wie selbstbewußt jenes Bild von ihrem Mann, seiner Präsidentschaft und von sich selbst zu entwerfen, das nach ihrer Vorstellung in die offizielle Geschichtsschreibung eingehen soll. Deshalb darf der Zeitungs-Journalist auch viele Passagen des immer wieder von ihren Gefühls- und Tränenausbrüchen begleiteten Gesprächs nicht verwenden oder veröffentlichen.

Diese filmische Erzählweise bedeutet, daß Jackies Gesicht in raffiniert geschnittenen Großaufnahmen vorherrscht: mal verstört oder ausdrucklos, zart oder scheu, mal gefaßt und stark, dann wieder ratlos und unsicher. Natalie Portmann verkörpert diese vielschichtig-schillernde Persönlichkeit mit großer Intensität, ihr schönes, klares Gesicht prägt den Film. (Inzwischen oscar-nominiert!). Alle anderen bleiben – bewußt – Nebenpersonen, wenn auch exzellent gespielt:  Peter Sarsgaard als Kennedys ausgleichender Bruder Bobby, Billy Crudup als namenloser Jounalist und anregender Widerpart im langen Gespäch, Greta Gerwig als mitfühlende Assistentin Nancy sowie der Brite John Hurt als alter Priester, mit dem Jackie über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens diskutiert –  es wurde seine letzten Rolle.

Kein emotional aufwühlendes Bio-Pic, sondern das eher nüchterne Porträt einer historischen Persönlichkeit, das sich nur auf einen kurzen Ausschnitt ihres Lebens bezieht und deshalb betont viele (historische) Fragen offen lässt. Dennoch: das filmisch-farbige Kaleidoskop einer ebenso faszinierenden wie ambivalenten amerikanischen Legende.

Poster/Verleih: Tobis Film

zu sehen: Capitol, CinemaxX Potsdamer Platz; Cine Star Sony Center (OV); Hackesche Höfe Kino (OmU); Kant-Kino; Kino in der Kulturbrauerei (dt. und OmU); Rollberg (OmU)

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