Rainer Allgaier

Theater- und Filmkritiken

  • Theaterkritiken
  • Filmkritiken
  • Berlinale
  • Rainer Allgaier
  • Impressum
  • Datenschutz
  • Theaterkritiken
  • Filmkritiken
  • Berlinale
  • Rainer Allgaier
  • Impressum
  • Datenschutz

Monat: Oktober 2010

Finstere Gross-Stadt-Gang: “ Don Giovanni“ in der Deutschen Oper Berlin **

22. Oktober 2010TheaterkritikenNo Comments

Die offene Bühne: ein pechschwarzer Raum. Während der Ouvertüre schält sich langsam aus der Finsternis ein hochgewachsener Mann, modisch-dunkler Anzug, gegeeltes Haar, Don Giovanni. Ihm folgen – gleichgekleidet – 20 Doppelgänger, bilden eine strenge Chorusline – eine choreographierte Männer-Riege, die Don Giovanni bis zu seinem Ende begleiten wird,  zugleich eine ergebene Schläger-Crew.  Diener Leporello dagegen ist der agile Kumpel, der zusammen mit seinem Herrn alle Untaten gemeinsam vorbereitet und verübt – eine leicht homoerotisch gefärbte Männerfreundschaft.
Auftritt Donna Anna im weissen Seidenhemd, gefolgt von ihrem Vater, der rasch von der Gang mit Golfschlägern brutal zuammengeschlagen wird. Donna Elvira bekommt die verflossenen Geliebten Giovanni’s als Fotos aus schwarzen Müllsäcken geliefert, Zerlina wird mit einem armlangen, goldenen Handschuh entjungfert (?) und statt ein Sektglas schwingt zur „Champagner-Arie“  Giovanni eine Peitsche.  Entsprechend sado-masochistisch schillert das  anschliessende Fest: ein sich drehendes Karusell-Gestänge roter und blauer Neonröhren, ein Partykeller mit viel nackten (männlichen) Oberkörpern.
Später bekommt Masetto seine Prügel, natürlich mit Golfschlägern, und darf Zerlina seinen blanken Hintern präsentieren.
Statt auf einem Friedhof laden Don Giovanni und Leporello den (unsichtbaren) toten Komtur vor dem Eisernen Vorhang ein und bei der finalen  Mahlzeit gruppiert sich die Schägertruppe zum lebenden Bild nach Leonardos berühmten Abendmahl. Die anschliessende Höllenfahrt verläuft glimpflich – denn danach steht Giovanni wieder auf, schüttelt den Staub vom Anzug und das Spiel kann von vorne beginnen… (das Schluss-Sextett ist gestrichen).
„Don Giovanni“ als coole Gross-Stadt-Revue, sehr chic und modisch, ein bisschen Friedrichstadt-Palast, etwas mehr harte Club-Szene  -  optisch effektvoll und mit komischen Einlagen garniert: Alex Esposito als quicker Leporello darf hierfür die italienische ‚comedia-del-arte‘-Rampensau rauslassen.
Regisseur Roland Schwab und sein Team haben sich vieles einfallen lassen, was intellektuell oder komödiantisch zur (literarischen) Don-Juan-Figur in Beziehung stehen könnte – nur auf Mozarts Musik haben sie nicht gehört – denn die erzählt eine ganz andere und weit vielschichtigere Geschichte.
Entsprechend oberfächlich fällt die musikalische Seite des Abends aus. Dirigent Robert Abbado muss sich unterordnen, viele unnötige Generalpausen einfügen, die Musik dem szenischen Geschehen, den vielen Bühnen-Gags anpassen. Eine eigene, eine überzeugende Lesart der Musik kommt dadurch nicht zu Stande.
Die meisten Sänger bleiben weitgehend solides Mittelmass, da sie bei dieser Inszenierung wenig Unterstützung durch Regie oder musikalische Leitung erhalten.
Profil vermögen nur die beiden Personen zu gewinnen, für die sich die Regie ausschliesslich interessiert: den kraftvolle Bass-Bariton Ildebrando d’Arcangelo in der Titelrolle und den bewundernswert agilen Alex Esposito als dessen Gegenspieler Leporello.
Alle Damen bleiben durchweg blass: Marina Rebeka (Donna Anna), Ruxandra Donose (Donna Elvira), Martina Welschenbach (Zerlina). Dem eher metallischen Tenor Yosep Kang’s (Don Otavio) fehlen Weichheit und Wärme.
„Don Giovanni“ als Spielwiese für vergnügungssüchtige Yuppies und modische Interpretations-Akrobaten läuft ins Leere. 
Mozart ist da viel genialer.

Foto: Marcus Lieberenz / Deutsche Oper

In flachen Gewässern: “ Das Rheingold“ in der Staatsoper im Schillertheater ***

18. Oktober 2010TheaterkritikenNo Comments

Auftakt zu einem neuen „Ring“-Zyklus, dem zweiten der Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim. Diesmal in Koproduktion mit der Mailänder Scala. Für die Regie wurde der (opern-unerfahrene) Leiter des Antwepener Toneelhuis gewonnen :Guy Cassiers. Angekündigt wurde eine moderne High-Tec-Inszenierung von Wagners Werk.

Die dunkle Bühne des Schillertheaters wird in der Tiefe durch eine riesige Relief-Wand verschlungener Menschen-Körper begrenzt, sie enthüllt sich als solche jedoch erst am Schluss, wenn die Götter in diese Burg Walhall einziehen. Zuvor werden Video-Bilder, die sich ständig verändern oder ineianderfliessen,  auf diese Wand projeziert: mal abstrakte Muster, die an aufsteigenden Rauch, an Feuersäulen oder Wasserspiegelungen erinnern, mal zeigen sich weite, Grand-Canyon-artige Landschaften, osszilierend in grünlichem oder silbrigem Licht.
Der Bühnenboden davor ist mit flachen Wasserbecken bestückt, in denen nicht nur die Rheintöchter, sondern auch das übrige Personal reichlich planschen oder spritzen – was, raffiniert beleuchtet, manch zauberhaften Effekt bewirkt.
Die bekannte Fabel vom Goldraub durch den Zwerg Alberich und wie Wotan den daraus geschmiedeten Ring durch List und Vertragsbruch an sich bringt, wird in Cassiers Leseart ganz schlicht und textbuch-treu nacherzählt, wobei die Bühnen-Zaubertricks zugleich immer offengelegt werden: so agieren beispielsweise die Sänger der beiden Riesen (Timo Riihonen und -bassgewaltig- Kwangchul Youn) in schlichten schwarzen Anzügen auf der Vorderbühne, während sie auf der Rückwand (durch zwei Doubles) als hünenhaften Schatten in Erscheinung treten.
Alles schöne Theatereffekte, wenn auch neue Einsichten in Wagners Drama dadurch kaum vermittelt werden.
Leider hat Regisseur Cassiers ausserdem den – wie sich schnell zeigt – unsinnigen Einfall, zu all dem technisch aufwendigen Wasser- und Video-Gefunkel auch noch neun Tänzer der belgischen „Eastman Company“ einzubeziehen. Sie hüpfen und schlängeln sich mal als stumme Doppelgänger der Götter oder Zwerge durchs Geschehen, mal müssen sie als Körper-Skulptur den Tarnhelm, die Riesen-Schlange oder die Kröte symbolisch darstellen (Choreographie: Sidi Larbi Cherkaoui).
Ein ziemlich wirres Gewusel auf der Bühne entsteht, das die Geschichte vom Rheingold unübersichtlicher macht als sie ist, und dem Abend einen unschönen, ebenso überflüssigen wie kunstgewerblichen Anstrich verpasst.
Ein Glück, dass Daniel Barenboim und seine Staatskapelle (wenn auch mit einigen Blech-Kiecksern!) sehr souverän all die unterschiedlichen, szenischen Ideen und Bilder durch kraftvolles, klangsattes und dramatisches Spiel zusammenhalten – durch sie gewinnt der Abend erst Interesse und Format.
Von den Sängern überzeugen – auch in ihrem sehr beweglichen Spiel – vor allem der Alberich des Johannes Martin Kränzle, der mehr lyrische Loge des Stephan Rügamer, die energische Fricka von Ekaterina Gubanowa sowie ein stimmkräftiges Rheintöchter-Trio. Dagegen scheint Hanno Müller-Brachmann als Wotan an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu stossen.
Ein uneinheitlicher und deshalb problematischer Auftakt des neuen Rings. Dieser (laut Libretto) zaubergewaltige Goldreif präsentiert sich hier als glitzender Diamant-Handschuh wie Michael Jackson ihn einst show-tauglich machte: Wagners Wotan als zeitgenössischer Popstar ?

Foto: Monika Rittershaus/Staatsoper im Schillertheater

Ein perfekter amerikanischer Traum: “ The Social Network“ von David Fincher ***

11. Oktober 2010FilmkritikenNo Comments

Die Entstehungsgeschichte des Internet-Erfolgs „Facebook“ als Hollywoods Hommage an das amerikanische Selbstverständnis: die scheinbar wahre Story vom mittellosen Harvard-Studenten Mark Zuckerberg zum jüngsten Milliardär der USA.
Der mit viel smartem Raffinement gedrehte Film von David Fincher erzählt in geschickten Vor- und Rückblenden wie der brave Student Zuckerberg durch Zufall und Genie zum ungewollten Erfinder einer digitalen Revolution wurde, wie er und ein paar Freunde eine Art von unverbindlichen, digitalen „Brieffreundschaften“ erfanden. Und wie sich daraus ein gewaltiger Wirtschaftskrimi entwickelte: wie Freundschaften zerbrachen, Liebesbeziehungen in die Brüche gingen und Anwälte letzlich die Angelegenheiten im Sinne einer effektiven Wirtschaftlichkeit regelten.
Die wirkliche, die wahre Geschichte von Zuckerberg und Facebook kennen nur wenige Personen; der Film von Regisseur Fincher und seinem kongenialen Drehbuchautor Aaron Sorkin  – basierend auf einem Buch von Ben Mezrich – zeigt den amerikanischen Traum  „vom Tellerwäscher zum Millionär“  in einer aktuellen Ausgabe, nämlich im 21., digital geprägten Jahrundert. Ein kommunikations-unfähiger Computer-Freak entdeckt unbeabsichtigt ein soziales Netzwerk, das  auf weltweite Resonanz stösst. Um diese Erfindung zu sichern, verrät er Freunde und Mitarbeiter – nicht böswillig, aber aus innerem Behauptungswillen. Die daraus erfolgenden Prozesse enden mit Vergleichen, finanziellen Abfindungen und persönlichen Geheimhaltungs-Verpflichtungen.
David Fincher gelingt ein filmisch spannendes Bio-Pic, dramaturgisch geschickt eingefädelt, virtuos geschnitten, mit passend-aufputschender Musik unterlegt, vor allem aber hat er  mit seinen jungen Darstellern die hohe Kunst des tempogeladenen, treffsicheren Dialogs eingeübt : Jesse Eisenberg als naiver, selbstbezogener Zuckerberg, Andrew Garfield als sein einziger Freund und Geschäftspartner Eduardo Saverin sowie Justin Timberlake in der Rolle des eloquent-aufschneiderischen Managers Sean Parker. Sie alle überzeugen durch jugendliche Identifikation.  Frauen spielen – naturgemäss in diesem Genre – nur die Rollen einer hübscher Neben-Dekoration, obwohl der Film mit der rassanten, verbalen Auseinandersetzung zwischen Zuckerberg und seiner Freundin Erica beginnt, an deren Ende sie dem selbstverliebten Compter-Nerd den Laufpass gibt – zugleich damit aber ungewollt die Erfolgsgeschichte des „Social Network“ initiiert.
Raffinierter und eleganter kann – trotz aller filmischen Glätte – Hollywood den ur-amerikanischen Selfmade-Traum derzeit kaum präsentieren.  Nicht nur für Facebook-Fans!

Foto: Jesse Eisenberg als Zuckerberg – Verleih: Columbia Pictures/Sony

zu sehen: Babylon Kreuzberg (OV), CineStar Sony Center (OV), International (OmU), CinemaxX Potsdamer Platz, UCI Zoo Palast,
                 Kino in der Kulturbrauerei, Die Kurbel, Titania Palast, Cubix Alexanderplatz, Passage Neukölln  u.a.

Im sozialen Käfig: “ Fish Tank“ von Andrea Arnold ****

11. Oktober 2010FilmkritikenNo Comments

England heute, moderne Mietskasernen am Rande einer Stadt in Essex. Hier lebt die 15jährige Mia mit ihrer noch jungen Mutter und einer kleineren Schwester. Sie tut sich schwer mit ihrer Umwelt, ist wütend auf alle und alles -  ohne einen Grund dafür bestimmen zu können: sie schwänzt die Schule, reagiert bockig auf Mutter, Schwester und Freundinnen. Einzig Freude: geheimes Einstudieren von Street-Dance und Rap, heimlich bewirbt sie sich auch auf eine etwas dubiose Anzeige als Club-Tänzerin.
Als der smarte Connor, ein neuer Lover ihrer Mutter,  auftaucht und auf die rotzige reagierende Mia gelassen mit freundlicher Ironie antwortet, beginnt das verschlossenen Mädchen ihm gegenüber aufzutauen: erstmals fühlt sie sich von einem Erwachsenen ernst genommen. Mehr durch Zufall als aus Absicht kommt es eines Abends sogar zu einem sexuellen Kontak. Daraufhin stellt Mia  – in falscher Einschätzung der Lage und Gefühle – Connor nach und entdeckt, dass er in einer benachtbarten, hübschen Einfamilien-Kolonie mit Frau und kleinem Kind ein normales, (klein-)bürgerliches Ehe-Dasein führt. Im Aufruhr ihrer enttäuschten Gefühle entführt sie zunächt das Kind, gibt aber nach einem turbulenten Marsch durch die trostlose Industrie-Landschaft am nahen Meer ihr sinnloses Vorhaben wieder auf.
Sie verlässt  Mutter, Schwester, den leicht verwahrloste Haushalt und die (vom Sozialamt angekündigte) Aussicht auf eine internat-ähnliche Sonder-Schule, und fährt mit einem kaum bekannten Freund nach Wales…
Diese eigentlich unspektakuläre Pubertäts-Geschichte aus einem sozial einfachen Milieu, erzählt die junge britische Regisseurin Andrea Arnold (es ist ihr zweiter Spielfilm) im Stil des berühmten, englischen „Küchen“-Realismus, aber ohne dessen meist politisch-überdeutlichen Zeigefinger. Feinfühlig und sensibel zeichnet sie das Porträt der unausgereiften 15-jährigen Mia als ein im Grunde liebenswert-normales Mädchen, das aber ohne jede familiäere oder schulische Hilfe mit sich und seinem Leben nicht zu Rande kommt – zumal in einem sozialen Umfeld am Rande der Verwahrlosung. Dabei vermeidet Andrea Arnold bei allem zeitgenössischem Elends-Realismus die direkte gesellschaftliche Anklage ebenso wie die Glorifizierung sozial-politisch helfender Ideen. Empathie statt Ideologie.
Dass dieses psychologische Portät aus der unteren Sozialschicht so stimmig wirkt, verdankt der Film neben der dokumentarischen Genauigkeit der Regisseurin vor allem der jungen Schauspielerin Katie Jarvis: ihr gelingt eine ungemein intensive Darstellung dieses frühreifen Mädchens – ebenso lebensecht wie anrührend.
Ein spannendes Sozialdrama von Heute, präzise, eindrucksvoll, ohne Pathos, gelegentlich mit britisch-nüchternem Humor.

Poster-Foto und Verleih: IFC Films

zu sehen: Hackesche Höfe Kino (OmU), Rollberg (OmU), Kino am Friedrichshain, Neue Kant Kinos, u.a.

… und es leuchten die Sterne : “ Adriana Lecouvreur“ in der Deutschen Oper Berlin ****

6. Oktober 2010TheaterkritikenNo Comments

Zwei Super-Stars der internationalen Klassik-Szene machen für zwei konzertante Vorstellungen in Berlin kurz Stop: Angela Gheorghiu und Jonas Kaufmann. Und beide halten im ausverkauftem Haus, was ihr Ruf verspach: dramatischen Belcanto vom Allerfeinsten.
Als Vehikel für die Präsentation der – in jeder Beziehung – teuren Künstler dient die in Berlin äusserst selten gespielte Verismo-Oper „Adriana Lecouvreur“ von Francesco Cilea (UA 1902) – man kann nur bedauerern, dass diese hoch-effektvolle Edelschnulze von Berliner Intendanten so hartnäckig gemieden wird.
Im Paris des 18.Jahrhunderts kämpfen Adriana Lecouvreur, eine berühmte Schauspielerin der „Comedie Francaise“, und die reiche Fürstin von Bouillon um den smarten Feldherrn Moritz von Sachsen. Nach allerlei Salon-Intrigen tötet die Fürstin ihre Rivalin Adriana mit einem vergifteten Veilchen-Bouquet. Die melodiegesättigte, zupackende Musik Cilea’s mit ihren hinreissenden Arien und Duetten lässt die Untiefen der tragischen Story schnell vergessen, bietet dafür viel echte Seelenstimmung und menschliches Gefühl.
Und hier triumphiert die Gesangskunst der beiden Stars aufs Allerschönste: ob im rauschhaften Liebestaumel oder tief bewegenden Schmerz. Belcanto veredelt durch leidenschaftlichen Audruck. Angela Gheorghiu begeistert durch eine wunderbar-zarte Piano-Kultur und leuchtende Spitzentöne, Jonas Kaufmann durch strahlende Tongestaltung und edlen Schmelz.
Das sehr präzise und klang-satt spielende Orchester unter der straffen und flexiblen Leitung des italienischen Gastdirigenten Marco Armiliato – einem Spezialisten in der Begleitung grosser Sänger – sowie das übrige, hochkarätige Ensemble ergänzen perfekt die beiden Stars und gestalteten den Abend zum grossen Opern-Erlebnis. Insbesondere beeindrucken die Russin Irina Smirnova als temperamentvolle Mezzo-Rivalin und der berliner Bariton Markus Brück als liebes-leidender Verehrer Adrianas.
Bleibt die Frage offen: warum nur konzertant – zumal die Sänger immer wieder geschickt in Mimik und Gesten ihre Rollen zu charakterisieren versuchen.
Im November diesen Jahres zeigt die Londoner Covent Garden Opera eine szenische Aufführungs-Serie des Werkes (in Ko-Produktion mit Wien, Barcelona und Paris) –
mit Angela Gheorghiu und Jonas Kaufmann in den Haupt-Partien.
Berlin bleibt in diesem Fall aussen vor -     offensichtlich misstraut man der Cilea-Oper 
immer noch !

Foto: Bettina Stoess/Deutsche Oper Berlin

Starke Frauen: Zwei moderne Opern-Einakter in der Werkstatt des Schillertheaters ***

5. Oktober 2010TheaterkritikenNo Comments

Auch die zweite Premiere der Staatsoper im Schillertheater-Komplex bietet Werke von zeitgenössischen Komponisten, diesmal zwei Einakter über Frauen, die dem Wahnsinn verfallen.
„Miss Donnithorne’s Maggot“ des Briten Peter Maxwell Davies, uraufgeführt 1974 in Adelaide, ist der Monolog einer sitzengelassenen Braut, die sich in ihr Haus einschliesst, es bis zu ihrem Tod nicht mehr verlässt und deshalb immer mehr wahnhaften Vorstellungen erliegt.  Vorbild ist eine historische Person im Australien des 19.Jahrhunderts, weshalb Davies in seiner Partitur viel Salonmusik jener Zeit zitiert, jedoch durch moderne Klangvorstellungen bricht.
Regisseur Michael von zur Mühlen verzichtet auf jedes historische Dekor, lässt innerhalb des hell getrichenen Werkstatt-Raums einen geschlossenen Verschlag errichten, um den das Publikum frei herumwandern kann (Sitzgelegenheiten gibt es kaum) und in den es nur über zahlreiche im Raum verteilte Monitore Einsicht hat. Mittels Fernsehn sieht man so ein etwas schäbiges modernes Zimmer einschliesslich Badewanne, in dem eine junge Frau mit langer blonder Perücke sich in ihren Wahn steigert und am Ende eine schwarze Puppe als ihr Kind zu gebären meint.
Die isländische Sopranistin Hanna Dora Sturludottir verkörpert diese arme, ausgeflippte Frau mit souveräner Beherrschung der musikalischen Anforderungen und grosser darstellerischer Intensität, einschliesslich auch komische und schrille Momente.
Viel Beifall für diese Leistung.
Nach kurzer Umbaupause : „Infinito Nero“  des rennomierten Italieners Salvatore Sciarrino,  erstaufgeführt 1998. Es ist der Monolog einer adligen Florentinerin des 16.Jahrhunderts, die später heiliggesprochen wurde. Eine kurze Komposition zwischen Herzschlag und Stille, ruhigem Gemurmel und spitzen Schreien: eine Nonne zwischen Verstummen und schriller Exaltation.
Auch diesmal triumphiert die Sängerin. Sarah Maria Sun, wie gekreuzigt mit Klebeband bewegungslos  an eine steile Wand geheftet, flüstert, haucht, fleht, ruft oder schreit ihre inneren Visionen heraus – feinfühlig vom seitlich postierten 8-köpfigen Instrumental-Ensemble unter Arno Waschk begleitet. Ob allerdings die beiden stummen Schauspieler, die um diese Installation herumlaufen und allerlei penälerhafte Aktionen unternehmen müssen, ein sinnvoller Einfall des Regiseurs ist, darf bezweifelt werden. Wiederum grosser Beifall für die Sängerin.
Fazit des anderthalb-stündigen Abends: starke musikalische Eindrücke durch zwei fabelhafte Künstlerinnen -  das szenische Arrangement jedoch erschöpft sich weitgehend in modischer Beliebigkeit.

Foto: Thomas Bartilla /Staatsoper im Schillertheater

Christoph’s Reste-Rampe: “ Metanoia“ – Uraufführung der Staatsoper im Schillertheater **

4. Oktober 2010TheaterkritikenNo Comments

Die Uraufführung der Auftrags-Oper „Metanoia – über das Denken hinaus“ des bisher kaum bekannten Komponisten Jens Joneleit (42) eröffnete am Tag der deutschen Einheit die drei-jährige Spielzeit der Staatsoper im frisch renovierten Ausweich-Quartier Schillertheater.
Ein geschickter Schachzug des neuen Intendanten Jürgen Flimm, denn Uraufführungen beweisen künstlerischen Mut  und vor geladenen VIPs, von denen keiner sich als Kunstbanause entlarven will, erhält auch eine neutönende oder experimentelle Oper garantiert freundlichen Applaus, zumal wenn vorzügliche Musiker und Sänger hohes Niveau a priori garantieren.
Doch im August starb zwei Tage vor Proben-Beginn der vorgesehene Regisseur Christoph Schlingensief – ein Lieblingskind bundesdeutscher Feuilletons.  Er hinterliess ein paar in Gesprächen entwickelte Ideen;  Bühnenbilder und Kostüme waren in Arbeit, aber ein fertiges Konzept lag nicht vor. Nach einigem Nachdenken entschloss sich das Ensemble, gemeinsam eine Auführung zu erarbeiten, ohne dabei ein Schlingensief-Imitat anzustreben.
Das Ergebnis zeigt jetzt eine Art Oratorium, das auf den ersten Blick ein bisschen an Schlingensiefs bisherige Theaterarbeit erinnert: frontal zum Publikum in zwei Reihen der Chor in unkleidsamen Ganzkörpertrikots (Woody Allens „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ lässt grüssen!), dazwischen die Solisten in historisierenden Roben, im Bühnenhintergrund dunkles Gestänge und ein Gazevorhang, auf dem fortlaufend schwarz-weisse Schnippsel aus frühen Schlingensief-Filmen flimmern.  Ausschliesslich auf der Vorderbühne – in ständig wechselndes,  stark farbiges Licht getaucht -  verhandeln die fünf Sänger und ein Schauspieler in weisser Toga philosophische, gelegentlich auch alltags-banale Thesen – ein kruder Libretto-Mix, den Rene Pollesch aus eigenen und aus Texten von Nietzsche („Über die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“) collagiert und „überschrieben“ hat. Eher verwirrend als überzeugend.
Die Musik von Jens Joneleit lässt die gross besetzte Staatskapelle, kompetent geleitet von Chef Daniel Barenboim, mächtig aufrauschen, gelegentlich von sanfter Elektronik umspülen.  Eine Partitur, die bekannte und bewährte Formeln der neueren Musik des 20.Jahrhunderts benutzt, und die im renovierten Schillertheater – dank tontechnischer Unterstützung – schöne akustische Effekte erzielt. Dennoch scheint Jens Joneleit mehr Epigone und Ekklektiker als Neuerer. Die Sänger danken’s ihm durch angenehm klingende Tongestaltung:  Annette Dasch, Anna Prohaska, Graham Clark, Daniel Schmutzhard, Alfred Reiter. Schauspieler Martin Wutke, der meist im Dunkel mit Taschenlampe herumtappen darf, setzt seine wohlklingende, volle Stimme für Nietzsche-Sentenzen und wohl auch für einen Schlingensief-Zitat ein.
Am Ende – nach gut einer Stunde -  hebt sich der Gaze-Vorhang und man sieht nun die halbfertigen Bühnenbilder Schlingensiefs:  Nachbildungen von Organen eines Körpers sollten es werden, darin sich dann Zellen und Parasiten bewegen konnten. Man ahnt, dass dies eine schräge und wilde Produktion geworden wäre – und nicht das insgesamt doch ziemlich blutleere Staatsopern-Oratorium und spröde Thesen-Theater, dem auch die handwerklich hohe Qualität der Aufführung keinen echten Bühnen-Atem einzu flössen vermag.

Foto: Monika Rittershaus / Staatsoper im Schillertheater

Fremd und faszinierend: “ Uncle Boonmee erinnert sich…“ von Apichatpong Weerasethakul ****

2. Oktober 2010FilmkritikenNo Comments

Der vollständige Titel des thailändischen Spielfilms, der in diesem Jahr die Goldene Palme von Cannes gewann, lautet in der deutschen Synchronfassung: „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“. Der Plural des Wortes Leben weisst auf die buddhistische Grundphilosophie des Werkes hin: auf den Glauben an die Seelenwanderung.  Mensch, Natur, Tiere und Geister, Vergangenheit, Zukunft und die reale Gegenwart des heutigen (politisch zerissenen) Thailand durchdringen sich auf wundersame und magische Weise, die einem westlichen (Durchschnitts-)Zuschauer allerdings einige Rätsel aufgibt. Viele der wunderbaren Bilder, der scheinbar schlichten Dialoge und Handlungen entschlüsseln sich in ihrer Doppel- oder Vieldeutigkeit nur zum Teil,  Bedeutung und Nuancen der Episoden können vom westlichen Betrachter nur erahnt werden.
Was zum Beispiel bedeutet die im Urwald und in magischer Dämmerung spielende Eröffnungs-Sequenz, in der ein an einem Baum festgebundener Büffel sich losreisst, durch die Landschaft stapft und schliesslich sich wieder ganz unspektakulär eingefangen lässt ?
Ist die goldgeschmückte Prinzessin, die in einer Sänfte durch den Dschungel getragen wird, in einen Wasserfall steigt und mit einem Fisch sexuell spielt, eine vergangene Erscheinung oder eine Wiedergeburt Uncle Boonmees?
Die eigentliche Story :  Uncle Boonmee ist schwer nierenkrank und hat sich zum Sterben auf eine Farm im Nordosten Thailands zurückgezogen, begleitet von seiner Schwägerin, deren Sohn und einem laotischen Gastarbeiter als Helfer. Aber bald erscheint beim gemeinsamen Abendessen auch die tote Frau Boonmees und noch später der Sohn, der vor Jahren bei einer Fotosafari sich mit einem Affen verband und nun als rotäugiger, stark behaarter Affenmensch zurückkehrt. Wie selbstverständlich mischt der Regisseur Reales mit Irrealem, Religiöses mit Aberglauben, Folklore mit Geschichte und Mythos.
Im knappen Epilog sortiert dann die Schwägerin die schriftlichen Beileidsbezeugungen zum Tod Boonmmees und zählt die den Briefen beigelegten Geldscheine. Ihr Sohn erscheint im orangefarbenen Mönchsgewand, das er ablegt, um zu duschen. Dann zieht er Jeans und Shirt an und geht mit seiner Mutter zum Essen in eine bunt erleuchtete (Karaoke-?)Bar. Doch das Filmbild zeigt beide Gestalten doppelt: die einen verlassen den Raum, die andern bleiben darin sitzen: was ist die Realität, wie deutet sich dieses offene Ende ?
Ein kleines Meisterwerk: schillernd und geheimnisvoll, traumhaft und real zugleich, von grosser und wohltuender Ruhe, zwar fern und doch menschlich anrührend – eine poetische Geschichte wie sie nur das Medium Film erzählen kann.

Foto (Poster) und Verleih: movienet

zu sehen: Babylon Kreuzberg (OmU), Hackesche Höfe (OmU), Neue Kant Kinos (dt.)

Kategorien

  • Allgemein
  • Berlinale
  • Filmkritiken
  • Theaterkritiken
  • Verschiedenes

Neueste Beiträge

  • Ende der Spielzeit 2018/19 in den Berliner Opernhäuser
  • Kino & Theater – Mai / Juni 2019
  • Gelungenes Musiktheater: „Oceane“ in der Deutschen Oper Berlin****
  • Kino & Theater März 2019
  • Meine BERLINALE 2019

Schlagwörter

Nase Reise nach Reims

Archive

  • Juni 2019
  • Mai 2019
  • März 2019
  • Februar 2019
  • Januar 2019
  • Dezember 2018
  • November 2018
  • Oktober 2018
  • Juli 2018
  • Juni 2018
  • Mai 2018
  • März 2018
  • Februar 2018
  • Januar 2018
  • Dezember 2017
  • November 2017
  • Oktober 2017
  • Juli 2017
  • Juni 2017
  • Mai 2017
  • April 2017
  • März 2017
  • Februar 2017
  • Januar 2017
  • Dezember 2016
  • November 2016
  • Oktober 2016
  • Juli 2016
  • Juni 2016
  • Mai 2016
  • April 2016
  • März 2016
  • Februar 2016
  • Januar 2016
  • Dezember 2015
  • November 2015
  • Oktober 2015
  • August 2015
  • Juli 2015
  • Juni 2015
  • Mai 2015
  • April 2015
  • März 2015
  • Februar 2015
  • Januar 2015
  • November 2014
  • Oktober 2014
  • September 2014
  • August 2014
  • Juni 2014
  • Mai 2014
  • April 2014
  • März 2014
  • Februar 2014
  • Januar 2014
  • Dezember 2013
  • November 2013
  • Oktober 2013
  • September 2013
  • August 2013
  • Juli 2013
  • Juni 2013
  • Mai 2013
  • April 2013
  • März 2013
  • Februar 2013
  • Januar 2013
  • Dezember 2012
  • November 2012
  • Oktober 2012
  • September 2012
  • August 2012
  • Juli 2012
  • Juni 2012
  • Mai 2012
  • April 2012
  • März 2012
  • Februar 2012
  • Januar 2012
  • Dezember 2011
  • November 2011
  • Oktober 2011
  • September 2011
  • August 2011
  • Juli 2011
  • Juni 2011
  • Mai 2011
  • April 2011
  • März 2011
  • Februar 2011
  • Januar 2011
  • Dezember 2010
  • November 2010
  • Oktober 2010
  • September 2010
  • August 2010
  • Juni 2010
  • Mai 2010
  • April 2010
  • März 2010
  • Februar 2010
  • Januar 2010
  • Dezember 2009
  • November 2009
  • Oktober 2009
  • September 2009
  • August 2009
  • Juli 2009
  • Juni 2009
  • Mai 2009
  • April 2009
  • März 2009
  • Februar 2009
  • Januar 2009
  • Dezember 2008
  • November 2008
  • Oktober 2008
  • September 2008
  • Juli 2008
  • Juni 2008
  • Mai 2008
  • April 2008
  • März 2008
  • Februar 2008
  • Januar 2008
  • Dezember 2007
  • November 2007
  • Oktober 2007
  • September 2007
  • August 2007
  • Juli 2007
  • Juni 2007
  • Mai 2007
  • April 2007
  • März 2007
  • Februar 2007
  • Januar 2007
  • Dezember 2006
  • November 2006
  • Oktober 2006
  • September 2006
Proudly powered by WordPress | Theme: Doo by ThemeVS.