Rainer Allgaier

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Monat: Januar 2012

Ein Schuss ins Leere: ‚Der Freischütz‘ in der Komischen Oper **

30. Januar 2012TheaterkritikenNo Comments

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito gilt als Provokateur: die Komischen Oper wie auch ihr Publikum erhofften sich darum im Vorfeld der Neuinszenierung des „Freischütz“ etwas Aussergewöhnliches, womöglich einen kleinen (kassenfördernden) Skandal. Doch am Ende: Pleite! -  weder dekonstruiert der Regisseur Webers romantische Oper zum biedermeierlichen Scherbenhaufen, noch mutet er einem abgehärteten Gross-Stadt-Publikum aufregende Tabubrüche oder gar eine revolutionäre Neudeutung zu. Er entwickelt zwar (überwiegend im Programmheft) manchen ungewöhnlichen Gedanken zur vieldeutigen Geschichte vom Versager Max und seiner, von unterschwelligen Ängsten geplagten Braut Agathe. Auch analysiert er kritisch eine primitiv-brutalen Dorfgesellschaft, die sich ihre überkommenen Rituale um jeden Preis erhalten will – und dafür auch Menschen-Jagd und Mord in Kauf nimmt. Aber er vermag diese Ideen und Deutungen kaum in theatralisch überzeugende Bilder umzusetzen.

Die düstere Bühne (von Rebecca Ringst) zeigt im ersten Teil aufrechte Baumstämme, kleine blattlose Bäumchen und auf dem Boden viel herbstliches Laub – in dem zur Erheiterung des Publikums ein lebendiges Schwein während der Ouvertüre offensichtlich nach Verborgenem sucht. Kaum von der Bühne gescheucht, beginnt die Jagd des „Viktoria“-jubelnden Chores auf eine Frau im kurzen Pelzmantel, die dann wie ein Tier erschlagen und ausgeschlachtet wird. Später suchen Agathe und Ännchen, von einem faschings-ähnlichen Polterabend zurückkehrend, Max in diesem Wald, der sich seinerseits aber rasch in die Wolfsschlucht verabschiedet. Dorthin hat der kräftige Kaspar inzwischen ein schmächtiges, junges Brautpaar entführt, das er dann mit dem inzwischen nackten Max bestialisch ermordet – die Freikugeln sind dafür der Lohn.
Im zweiten Teil ist der Wald dann abgeholzt, die Baumstämme liegen kreuz und quer auf dem Bühnenboden. Nachdem die angekickste Girlie-Truppe der Brautjungfern ihren Scherz mit Braut- und Totenkrone getrieben hat, und der immer noch pudelnackte Max mit seiner Freikugel Agathe fast erschossen hätte, versucht ein riesenlanger Hippie-Eremit den Frieden wiederherzustellen, indem er das Ritual des (sexuel konotierten) Probeschusses abschaffen will – doch jetzt wehrt sich die Dorfgemeinschaft brutal – kurzerhand werden alle erschossen: Max, der Eremit, nur Kaspar setzt sich das Gewehr selbst an den Kopf – eine kleine Blut-Fontäne schiesst putzig hervor. Black-Out.
Ein Spektakel zwischen schrillem Jahrmarkt-Theater, Komödienstadel und modischer Horror-Picture-Show: effekthascherisch und dadurch über weite Strecken langweilig.
Am meisten aber leidet unter dieser vordergründig-platten Inszenierung die Musik. Dirigent Patrick Lange bemüht sich um zupackende Tempi und klangliche Differenzierung, aber die Sänger vermögen – bei all den grellen Aktionen -  ihre Rollen kaum zu erfüllen. Ina Kringelborn (Agathe) und Julia Giebel (Ännchen) singen „rein und klar“, bleiben aber blass und ausdruckslos. Vincent Wolfensteiner (Max) versteht gut zu artikulieren, hat aber einige Probleme mit sauberen Tönen. Am überzeugensten sind die dunklen Männerstimmen: Carsten Sabrowski als kerniger Kaspar und Alexey Tihomirov in der kleinen Eremiten-Rolle. Klangfest der Chor.
Webers romantischer „Freischütz“ ist einem heutigen Publikum schwer zu vermitteln: vor ein paar Jahren missriet er in der Deutschen Oper zum totalen Flop, jetzt in der Komischen Oper reichte es beim Publikum immerhin zu einem ‚gerade noch‘ – Erfolg.
Foto: Wolfgang Silveri /Komische Oper

nächste Vorstellungen:  4./ 7./ 21./ 24. Februar 2012

Musikalisches Glück: ‚Tancredi‘ in der Deutschen Oper ****

27. Januar 2012TheaterkritikenNo Comments

Als Gioacchino Rossini 1813 seine neue Oper „Tancredi“ (nach einem Schauspiel von Voltaire) in Venedig uraufführte, endete sie ganz konventionell mit einem glücklichen Schluss. Wenige Monate später bei der zweiten Inszenierung in Ferrara lies Rossini seinen Helden – ganz ungewöhnlich für jene Zeit – am Ende sterben: das Publikum reagierte empört und der Komponist musste für lange Zeiten das sogenannten ‚lieto fine‘, das Happy End der ursprünglichen Fassung wiederherstellen. Heute dagegen wird eher der tragische Ausgang, jenes musik-dramatische Experiment von Ferrara, bevorzugt -  so auch jetzt an der Deutschen Oper Berlin.
Szenisch importiert das Haus in der Bismarckstrasse dafür eine Produktion vom italienischen Rossini-Festival in Pesaro aus dem Jahr 1999. Doch die Inszenierung des italienischen Regie-Veteranen Pier Luigi Pizzi, der auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich ist, entpuppt sich als sehr konventionelles Arrangement mit Säulen, Treppen und Reliefs in blankem Mamor sowie Sängern in weissen oder schwarzen Gewändern (halb alt-römisch, halb mittelalterlich), die sich vorzugsweise an der Rampe aufstellen und direkt ins Publikum singen – akustisch natürlich ein grosser Vorteil. Das Beste, was diese Inszenierung leistet, ist, dass sie die durch eine Brief-Intrige zerstörte Liebesgeschichte des sizilianischen Ritters Tancredi (vor dem Hintergrund der Sarazenen-Kriege zu Beginn des 11.Jahrhunderts) schlicht und klar erzählt – und vor allem: dass sie die Musik nicht stört.
Zumal wenn Rossinis quick-lebendige Musik mit ihren vokalen und instumentalen Finessen so hervorragend dirigiert wird wie von dem grossartigen Alt-Meister Alberto Zedda (84), einem der besten Rossini-Kenner unserer Tage. Unter ihm läuft das Orchester der Deutschen Oper zu Hochform auf: die Musik pulsiert und federt, alles klingt duftig und durchsichtigt, die Tempi sind straff und klug dynamisiert, nie – auch nicht im rasend schnellen Finale des 1.Akts – wird gehetzt oder übertrieben. Zedda verpasst den perlenden oder auch mal melancholischen Melodien die kluge Mitte: Rossini im Goldenen Schnitt.
Und auch der Chor – ausschliesslich Männerstimmen – und die sechs Solisten fügen sich passgenau in diese Lesart des frühen Belcanto ein. Etwas verhalten der helle Tenor von Alexej Dolgov (als väterlicher Argirio), mit kantablem Bass-Bariton Krzysztof Szumanski (in der Rolle des bösen Rivalen Orbazzano), mit schönem Mezzo Clementine Margaine (als Dienerin und Vertraute Isaura) sowie Hila Fahima mit klingendem Sopran (in der kleinen Nebenrolle des Dieners Roggiero).
Für die Titelrolle des Tancredi setzt die israelische Mezzosopranistin Hadar Halevy ihren dunklen, samt-weichen Mezzo ein, brilliert in den beiden grossen Duetten und zuvor mit der  (damals europaweit) zum Ohrwurm avancierten Auftritts-Arie ‚Di tanti palpiti’  – allerdings fehlt ihr (vor allem im zweiten Teil) ein wenig die Durchschlagskraft. Königin des Abends ist zweifelsohne die italienische Sopranistin Patrizia Ciofi als unglücklich liebende Amenaide: perfekt in der Ausgewogenheit zwischen strahlenden Koloraturen und trauerumflorten Legato-Bögen, stilsicher und anrührend zugleich. Niemals wird ihre vokale Virtuosität zum Selbstzweck, nie opfert sich die gesangliche Linie vordergründigen Effekten. Vielmehr fügt sich Patrizia Ciofi ebenso elegant wie selbstsicher in den musikalischen Gesamtablauf ein.
Dank dieser Sänger und dank der klaren, diziplinierten Leitung durch Alberto Zedda – ein glücklicher Rossini-Abend, italienischer Belcanto in seiner schönsten und mustergültigsten Form.

Foto: Bettina Stoess/ Deutsche Oper Berlin

nächste Vorstellungen: 1. und 4.Februar 2012

Schwarze Romantik: ‚Faust‘ von Alexander Sokurov ***

24. Januar 2012FilmkritikenNo Comments

„Frei nach Goethe“ heisst es im Vorspann des Films, und tatsächlich berücksichtigt der russische Regisseur Alexander Sokurov nur einige wenige Handlungspunkte und Figuren von Goethes theatralischem Gedicht. Sattdessen zeigt er das düster-groteske Bild einer deutschen Kleinstadt im frühen 19.Jahrhundert, durch die ein von Hunger und Geldmangel gehetzter Arzt und Leichensezierer namens Faust (Johannes Zeiler) scheinbar orientierungslos taumelt. Er begegnet einem Pfandleiher und Wucherer (Anton Adassinsky),  der ihn zu allerlei merwürdigen Taten anstachelt und der auch die entscheidende Begegnung mit der jungen Margarete (Isolda Dychauk) herbeiführt:  in einem stark bevölkerten, lauten Wasch- und Badehaus. Im Schlussteil – nach Gretchens Tod -  fliehen Faust und sein körperlich verwachsener Mephisto in eine weite Landschaft mit bedrohlichen Geysiren. In seiner Gehetztheit erschlägt Faust,  nachdem er einen merkwürdigen Pakt – mangels Tinte – mit Blut unterzeichnet hat, seinen ihm nun hinderlichen, dämonisch-nosferatuhaften Begleiter und eilt auf einem hohen Gletscher zu: „Weiter.Weiter!“
Sokurov zeigt eine Welt wie in fühen deutschen Stummfilmen: mit romantisch verwinkelten Gassen, unheimlichen Gewölben und seltsamen Personen in hohen Zylindern oder schweren, voluminösen Roben. Ein Kuriositäten-Kabinett in fahlen Farben mit vorbeihuschenden Ratten, ausgenommenen Leichen, grölenden Soldaten, aber immer so arrangiert, als ob es sich um Gemälde einer schwarzen Romantik handele – sorgfältig kadriert auf das Format eines Stummfilms. Die Kamera (Bruno Delbonnel) ist äusserst beweglich, scheint die Personen hinter sich herzuziehen, verzerrt auch gelegentlich ihre blau- oder grün-stichigen Bilder ins Komisch-Groteske. Szenen einer makaber- biedermeierlichen Gesellschaft, der Faust entflieht…
Gedreht wurde der Film in St.Petersburg mit deutschen und russischen Darstellern, gesprochen wird (in der Originalfassung) ein modernes Umgangsdeutsch, durchsetzt mit einzelnen Goethe-Zitaten. Sokurov selbst bezeichnet diesen „Faust“ als Abschluss einer Tetralogie über die Macht und das Böse – doch es wird in diesem Zusammenhang (d.h. mit Filmen über Hitler, Lenin, Kaiser Hirohito) nicht ganz klar, was er damit meint.
„Faust“ ist ein Werk voll raffinierter Künstlichkeit, das vieles andeutet, aber ebenso viel offen lässt. Es sind einprägsame, fantasievolle, auch mysthische Bilder, gleichsam eine filmische Mischung aus Murnau und Tarkowski, deren tieferer Sinn sich aber hinter – ausgiebig gezeigten – Nebelschleiern und Wolken verbirgt.

Poster/ Verleih: MFA

zu sehen: Filmkunst 66; Filmtheater am Friedrichshain; Hackesche Höfe; Krokodil; Neues Off; Sonntagsmatinee: Delphi; International

Düsteres Biopic: ‚J.Edgar‘ von Clint Eastwood **

20. Januar 2012FilmkritikenNo Comments

John Edgar Hoover war Gründer und -  von 1924 bis zu seinem Tod 1972 -  Chef des amerikanischen FBI : einer der mächtigsten Männer seiner Zeit. Ein patriotischer Konservativer, der stets die Tugenden des ‚alten Amerika‘ beschwor und dessen Hass sich einerseits gegen Verbrecher oder solche, die er dafür hielt, richtete, andererseits gegen linke Politiker und Denker. Ihrer Verfolgung galt sein ganzer Ehrgeiz und dafür baute er das FBI unter Einbeziehung jeweils neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden zu einer hocheffektiven und allmächtigen (Polizei- und Spionage-)Behörde aus. Berüchtigt war seine Sammlung von Geheim-Informationen über fast jede bedeutende Persönlichkeit der USA, einschliesslich der jeweiligen Staats-Präsidenten und ihrer Clans.
Zu Beginn des Films, in dem Regisseur Clint Eastwood sich mit dieser zwiespältigen Figur der jüngeren amerikanischen Geschichte auseinandersetzt, diktiert der alte Hoover seine Memoiren einem jungen Sekretär in die Maschine – eine eitle, oft stark geschönte Darstellung der Wahrheit, wie sich am Film-Ende in einer kurzen Dialogszene erweist. In verschachtelten,  nicht-chronologischen Rückblenden werden die Etapen seiner beruflichen Tätigkeit als düster-farbige Bildsequenzen erzählt: die Aufstände kommunistischer Radikaler zu Beginn der 1920er Jahre, die Entführung des Lindbergh-Babys, die Jagd auf John Dillinger, die Bespitzelung der Roosevelts, der Mord an den Kennedys wie auch der tödliche Schuss auf Martin Luther King, ein politischer Kämpfer, den Hoover ebenso verachtete wie seinen letzten Präsidenten, Richard Nixon.
Hoovers Eitelkeit und Ehrgeiz, seine paranoiden Züge und das rücksichtslos-brutale Auspielen seiner Macht sucht Eastwood durch sein Privatleben zu erklären. In (erfundenen) Szenen schildert er, wie die bigotte Mutter (Judie Dench) ihren Sohn vor einem ‚unnatürlichen Verhalten‘ warnt, wie Hoover seine Homosexualität riguros unterdrückt und seinem lebenslangen Freund und Mitarbeiter Clyde Tolson (Armie Hammer) keinerlei körperlich-intime Nähe gestattet – trotz täglich gemeinsamer Dinners oder gelegentlicher Urlaubsausflüge.
Doch so richtig kommt der Film nicht in Fahrt: die historischen Ereignisse werden kurz und routiniert durchgespielt, die Szenen des Privatlebens sind dick aufgetragen, zu lang geraten und leicht rührselig – unterlegt von kitschigen Hollywood-Geigen. Zwar gelingen Eastwood immer wieder kluge Passagen, in denen er Befindlichkeiten des heutigen Amerika in dessen Vergangenheit kritisch spiegelt und zur Diskussion stellt, aber solche Momente gewinnen in der Fülle der nachgestellten, historischen und in den düsteren, privaten Bildern keine Stringenz. Eine handwerklich-professionelle Oberflächlichkeit bestimmt weite Teile des Films.
Herausragend jedoch ist die schauspielerische Leistung Leonardo di Caprio’s als J.Edgar.  Seine vitale Präsenz beherrscht diesen historischen Bilderbogen von Angang bis zum Ende, er allein vermag auch noch in der (stark aufgeschminkten) Alters-Maske glaubwürdig und überzeugend zu agieren. (Eine Nominierung für den diesjährigen Oscar scheint sicher).  Neben ihm schrumpfen allen anderen Darstellern zu blassen Nebenfiguren.
Eine wenig ergiebige Filmbiographie – trotz des eindrucksvollen Leonardo di Caprio.

Foto/ Poster: Warner Brothers GmbH

zu sehen: CineStar im Sony Center (OV); Babylon Kreuzberg (OmU); CinemaxX Potsdamer Platz; Cubix am Alex; Titania Palast; Kulturbrauerei; Colosseum, u.a.

Luxuriös: ‚Il trionfo del tempo e del disinganno‘ im Schillertheater (Staatsoper) ****

16. Januar 2012TheaterkritikenNo Comments

1707 traf der junge Georg Friedrich Händel in Rom ein, wo er als Auftragsarbeit für einen adligen Kleriker und Mäzen sein erstes Oratorium schrieb – geschickt die stilistischen Gepflogenheiten und Erwartungen der dortigen Kunst-Liebhaber einbeziehend. „Il trionfo del tempo e del disinganno“ (Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis) ist ein frommer Disput von vier allegorischen Figuren, der das Vergnügen gegen die Vergänglichkeit, die Schönheit gegen Alter und Tod ausspielt – ein schlichtes Parabelspiel als Mahnung zu einem christlich-moralischen Leben. Eine knapp dreistündige Abfolge von vielen Arien und einigen wenigen Ensemble-Szenen, ohne Chor und instrumentale Zwischenspiele. Händel beindruckte mit erstaunlichen, musikalischen Einfälle und schuf einige seiner schönsten Melodien, von denen er noch in seinen späteren Werken erfolgreich profitierte. Bekanntestes Beispiel: die Arie ‚Lascia la spina‘, die später in der Oper „Rinaldo“ als ‚Lascia ch’io pianga‘ ungemein populär wurde.  Das Oratorium selbst geriet schnell in Vergessenheit.
Intendant Jürgen Flimm hat dieses Frühwerk 2003 in Zürich inszeniert und nun für die Staatsoper im Schillertheater neu eingerichtet. Und auch wenn Berlin keine so prominenten Sänger-Stars wie damals Zürich aufbieten kann, begeistert die einfallsreiche und effektvolle Auführung nach wie vor. Flimm verlegt die eher abstrakte Auseinandersezung zwischen Piacere (Inga Kalna) auf der einen und Tempo (Charles Workman) und Disinganno (Delphine Galou) auf der anderen Seite in ein hochmodisches Luxus-Restaurant – dorthin, wo auch heute Schönheit, Eitelkeit und Genuss sich treffen. Erich Wonder hat dafür einen prachtvollen Raum geschaffen -  links weissgedeckte Tische, recht eine riesige Bar, dahinter goldfarben schillernde Lamellenwände – und dazu hat Florence von Gerkan hinreissende Abendroben entworfen, raffiniert im Schnitt zwischen Barock und heutiger Edel-Boutique. Kellner in langen weissen Schürzen wieseln hin und her, die Jeunesse doree wirbelt fröhlich herein und heraus  – ebenso wie merkwürdige alte Männer in schäbigen Anzügen, tanzende Matrosen, betende Nonnen, Kinder und Blinde sowie einmal Georg Friedrich Händel persönlich – mit Jabot und Allonge-Perücke samt seiner fahrbaren Orgel. Und zwischen all dem Luxus-Treiben und den Nobel-Speisen die immer verwirrter werdende Bellezza (Sylvia Schwartz), eine elegante Blondine im dunklen Pailletten-Kleid, die am Ende sich von ihrer Freundin Piacere trennt und sich von Tempo und Disinganno ein Nonnen-Gewand überstreifen lässt. Dann sind die Tische abgeräumt, die Gesellschaft ist verschwunden, das Licht gelöscht und Bellezza singt leise eine letzte, melancholische Melodie: ein Triumph ?
Doch was wäre die schöne und kluge Regie Jügen Flimms ohne die Musik: Marc Minkowski und sein wunderbares Orchester ‚Les Muciciens du Louvre Grenoble‘ lassen – auch ohne Pauken und Trompeten – Händels römisches Oratorium äusserst frisch und zupackend erklingen – frei von allem  sprödem und dünnen Klang alter Musik, dramatisch zugespitzt und ungemein farbig. Sylvia Schwartz beeindruckt als Bellezza durch ihre blendende Erscheinung und samtweiche Piani, Inga Kalna ist eine rothaarig-temperamentvolle Piacere, wenn auch in den hohen Koloraturen etwas spitz, Charles Workman als Tempo und Delphine Galou erfreuen durch schöne Stimmen, ein wenig mehr Ausdruck wäre zu wünschen.
Ein verdienter Erfolg für Jügen Flimms einfallsreiche Inszenierung eines allzu braven Oratorium-Librettos und Riesenbeifall für die mitreissende Gestaltung der jugendlich-genialen Musik Händels durch Marc Minkowski und seine fabelhaften ‚Muciciens du Louvre‘. Ein gelungener Abend.

Foto:Hermann und Clärchen Baus /Staatsoper Berlin

nächste Aufführungen:18./21./24./27./29.Januar 2012

Schicke Wahlkampf-Schlacht: ‚The Ides of March‘ von George Clooney ***

12. Januar 2012FilmkritikenNo Comments

Fiktive Vorwahl im US-Bundesstaat Ohio. Der demokratische Kandidat Mike Morris (George Clooney) begeistert mit seinem links-idealistischen Programm vor allem eine jugendliche Anhängerschaft, zumal er nicht bereit ist, die üblichen Deals wie Stimmenkauf gegen Postenvergabe mitzumachen. Doch sein gut eingespieltes und fest auf ihn eingeschworenes Wahlkampf-Team gerät unerwartet in Turbulenzen, als sein ehrgeiziger Berater-Assistent Stephen Meyers (Ryan Gosling) mit der Praktikantin Molly (Evan Rachel Wood) anbändelt und entdeckt, dass sie vom verheirateten Morris ein Kind erwartet. Ausserdem versucht der Wahlkampf-Manager des Gegenkandiaten (Paul Giamatti), Stephen abzuwerben – und allein diese, zunächst verheimlichte, Tatsache führt zu Stephens sofortigen Entlassung. Jetzt aber schlägt Stephen zurück, indem er Morris mit einem angeblichen Brief von Molly, die inzwischen abgetrieben hat und an einer Überdosis Tabletten gestorben ist, erpresst. Morris fügt sich und akzeptiert darüber hinaus den zuvor so vehement abgelehneten Deal des Kaufs gegnerischer Stimmen gegen das Versprechen hoher politischer Ämter, den Stephen, der inzwischen zum neuen Wahlkampf-Boss aufgestiegen ist, eiskalt arrangiert hat.
George Clooney hat einen ebenso engagierten wie flott-unterhaltsamen Film gedreht. Er zeigt – so kann man vermuten – die Enttäuschung des „linken“ Hollywood über die gegenwärtige US-Politik, wo ein mit viel Idealismus angetretener Präsident Obama immer mehr den – vom politischen Gegner bestimmten – realen Verhältnissen Tribut zahlen muss. Das Drehbuch beruht allerdings auf einem Bühnenstück von 2008 und verarbeitete damals die ‚Lewinski/Clinton‘-Affaire. Durch die auf Effekt zielende Verkopplung einer Sex-Geschichte mit dem Problem des Idealismusverlusts gerät der Film jedoch in die Nähe von Kitsch und Kolportage. Von Ironie oder Satire kaum eine Spur. Zwar werden diese dramaturgischen und gedanklichen Schwächen durch eine kluge und temporeiche Inszenierung und ein hervorragendes Darsteller-Ensemble – zu dem ausser Ryan Gosling und George Clooney noch ein brillanter Philip Seymor Hoffman als abgebrühter Kampagnen-Leiter gehört – geschickt überspielt. Doch bleiben diese „Iden des März“ (eine von Clooney geliebte Shakespeare-Anspielung) insgesamt eher oberflächlich-brillant, wirklich Neues erzählen sie nicht: der böse, scharf analysierende und dadurch erhellende Blick auf das politische System fehlt. Ein Polit-Thriller: gefällig, aber harmlos.

Foto/Poster: Tobis Film

zu sehen: CineStar Sony Center (OV); Filmkunst 66 (OmU); Kulturbrauerei (OmU); Neues Off (OmU); Astor; CinemaxX Potsdamer Platz; Titania Palast; Cubix; Filmtheater am Friedrichshain; Kant-Kino; New York; Colosseum u.a.

Katastrophen und andere Kleinigkeiten: ‚Zwischenfälle‘ – ein Gastspiel des Burgtheaters Wien ****

10. Januar 2012TheaterkritikenNo Comments

Eine blitzschnelle Abfolge kleiner und kleinster Szenen : Komische Mini-Dramen und Sketsche des russischen Post-Avantgardisten Daniil Charms (1905-1942) und der beiden französischen Farcen-Schreiber Georges Courteline (1858-1929) und Henri Cami (1884-1958). Ergänzt um einige Improvisationen, parodierenden Tanzeinlagen und alten Schlagern („Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt…“).
Regisseurin Andrea Breth hat diesen munteren Abend als ein schräges Panorama absurdester Ereignisse komponiert. Da versucht ein Mann einem anderen gegen Bezahlung in den Allerwertesten zu treten, versagt aber jedesmal; ein Büroangesteller schwänzt seinen Schreibtisch, fordert aber unerbittlich eine Gehaltserhöhung; Leute telefonieren, ohne zu wissen mit wem oder warum sie das Gespäch führen; ein Grün-Käppchen verweigert dem als Grossmutter verkleideten Wolf die Frage, warum er einen so grossen Mund habe – weshalb der Wolf es nicht fressen kann; ein sechsjähriger Knirps lässt seinen bösartigen Vater durch einen (elekrischen) Blitz verkohlen; Damen beissen sich gegenseitig in den Po oder eine Braut verbringt die Hochzeitsnacht im Dauertelefonat mit ihrer Mutter. Dazwischen versuchen sich alle mal im Tangoschritt und ein junger Mann im grauen Anzug wirbelt virtuos zum Frühlingsstimmen-Walzer durch die glatten, hellen und schnell verwandelbaren Bühnenräume (Ausstattung: Martin Zehetgruber / Moidele Bickel).
10 Schauspieler – darunter Corinna Kirchhoff, Johanna Wokalek, Elisabeth Orth, Peter Simonischek, Udo Samel, Hans-Michael Rehberg, Markus Meyer – wechseln ständig ihre Rollen, Kostüme oder Perücken, quasseln mal in Hoch- oder Schwyzer-Dütsch, Französich oder Englisch,  singen, krabbeln, blasen Alp-Horn, ballern mit Revolvern oder schwingen erstaunlich graziös die Tanzbeine. Am Ende – nach über drei etwas zu lang geratenen Stunden – sitzen alle bieder-brav an Holztischchen und singen gemeinsam im Chor – ein freundlich-ironischer Gruss an den Kollegen Marthaler.
Theater als Zerrspiegel der Welt – ein ver-rückter Abend der komischen Katastrophen, raffiniert inszeniert und brillant gespielt – es darf gelacht werden , auch wenn gelegentlich nur Selters statt Champagner serviert wird.
Eine Produktion des Burgtheaters Wien vom Februar 2011, gezeigt im Haus der Berliner Festspiele (Schaperstrasse 24) vom 9.- 12.Januar 2012.
Foto: Bernd Uhlig/ Berliner Festspiele

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