Rainer Allgaier

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Monat: November 2010

Ein starker Auftritt: ‚Un Tramway‘ – Gastspiel aus Paris ****

25. November 2010TheaterkritikenNo Comments

Hinter dem Titel ‚Un Tramway‘ verbirgt sich eine freie, französische Fassung des Tenessee-Williams-Klassikers ‚A Streetcar Named Desire‘ (Endstation Sehnsucht)  von 1950. Der junge, polnische Star-Regisseur Krzysztof Warlikowski zeigt eine radikal modernisierte Inszenierung, die sich fast allein auf die Figur der (hier von Anfang an)  psychisch gestörten Blanche du Bois konzentriert. Soziale oder politisch-geographische Verhältnisse (der Untergang der amerikanischen Gesellschaft der Südstaaten) spielen keine Rolle. Auch die Beziehungen Blanche’s zu ihrer schwangeren Schwester Stella oder zu ihrem – in dieser Aufführung – biederen Schwager Stanley spielen nur eine Nebenrolle. Der Abend wird so zum starken Auftritt der Darstellerin der Blanche: zum umjubelten Triumph von Isabelle Huppert.
Es ist eine zwei-einhalb-stündige, pausenlose Tour de Force, angereichert mit langen Wort-Passagen, in die auch Texte von Sophokles bis Oscar Wilde eingebaut sind. Die schlanke Isabelle Huppert entwickelt in dieser stark ausgebauten Rolle eine unglaublich intensive Energie und zähe Vitalität, die sie aber mit spielerischer Leichtigkeit und Eleganz sichtbar zu machen versteht. Sie ist gleichzeitig die Leidende, Einsame, Verzweifelte aber auch die Kapriziöse, Arrogante und intellektuell Überlegene in diesem Spiel um Realität und Wahn. Auch sprachlich changiert Huppert’s Blanche grandios auf einem schmalen Grad zwischen Boulevard-Geplauder und schrillem Ausbruch, zwischen tränenerstickter Tonlosigkeit und (französisch)hohem Pathos.
Eine an die Grenzen des Menschlichen stossende, schillernde Figur, die anrührt und betroffen macht.
Die weite, offene Bühne deutet (metaphorisch) eine Bowlingbahn an, darüber ein schmaler, fahrbahrer Glaskasten mit Toilette und Badewanne. Nahe der Rampe rechts ein paar moderne Sessel, links ein breites Bett. Bunt-flackernder Beleuchtungswechsel vermittelt Disco-Atmosphäre, eine Sängerin interpretiert populäre englische Hits, aber auch (bedeutungsschwanger beim Sex zwischen Stanley und der betrunkenen Blanche ) eine Rock-Version von Monteverdis ‚Tancredi‘. Videobilder zeigen immer wieder die Gesichter der Darsteller in Gross-Aufnahme. Doch all diese modischen Regie-Zutaten bleiben äusserlich, werden allein durch Isabelle Huppert’s darstellerische Kraft zusammengehalten. Ihr allein verdankt der Abend seine Grösse und seine Mitgefühl auslösende Wirkung: der starke Auftritt einer zierlichen, grossen Schauspielerin.

Foto:Pascal Victor / ArtComArt / Berliner Festspiele

Bilder und Zeichen: ‚Das Rheingold‘ in Halle (Saale) ***

22. November 2010TheaterkritikenNo Comments

Für zwei Vorstellungen schwamm Richard Wagners „Rheingold“ in der Saale, genauer: in einem langen Fang-Netz fischten Götter und Zwerge goldfarbene Metall-Förmchen aus einem schmalen Wasserbecken entlang der Bühnenrampe.
Auftakt eines Ring-Zyklus, der bis 2013 in Koproduktion mit dem Theater in Ludwigshafen entstehen soll. Inszeniert vom Intendanten der pfälzischen Bühne, Hansgünther Heyme, dirigiert vom musikalischen Leiter beider Häuser, Karl-Heinz Steffens (einem Ex der Berliner Philharmoniker) und musiziert vom jeweiligen ortsansässigen Orchester.
Heyme, der auch sein eigener Ausstatter ist, erzählt die Geschichte gleichsam als modern bebildertes Bühnenmärchen. Alberich, mit langem blonden Haar und blanker Brust unterm modisch-schwarzen Anzug, geht den kessen Rheintöchtern mit ihren hochgesteckten, roten Haarschöpfen drastisch an die Wäsche, die Götter streiten in schicker weisser Abendgarderobe um modischen Flitter und jugendlichen Glanz verleihende Äpfel, zwei schwarz kostümierte Kinder tragen den beiden Riesen je einen überdimensionalen Umriss ihrer Figur wie eine Laubsägearbeit hinterher, und am Schluss, beim abendlichen Einzug in Walhalla, fallen regenbogenfarbige Tücher aus dem Bühnenhimmel und schweben seltsam-düstere Rauschgoldengel herab: ein Hinweis auf die im nächsten Ring-Abschnitt auftauchenden Walküren.
Nicht all diese Bilder und Zeichen überzeugen oder sind zu enträtseln, wie etwa die diagonal durch den Raum verlaufende hohe, dunkle Wand, die mit ihren weissen Buchstaben und Zahlen an die Anzeigentafel eines Flughafen erinnert.
Doch gewinnt die szenische Gestaltung vor allem durch ihre lebendige Personenführung und das kraftvolle Spiel der Sänger-Darsteller an Spannung.
Besonders der macho-hafte Alberich von Gerd Vogel, der elegant-süffisante Loge von Paul McNamara, die energische Fricka der Ulrike Schneider sowie Julia Freyenbogen’s Erda,  eine schlank-verführerische Brünette in Stiefeln, überzeugen. Gerard Kim als Wotan besitzt einen voll-klingenden Bass-Bariton, es fehlt ihm aber noch an der stück-beherrschenden Statur und der ‚götter-väterelichen‘ Ausstrahlung. Sehr spielfreudig das muntere Rheintöchter-Terzett.
Dirigent Karl-Heinz Steffens nimmt Wagners Musik als breit-,  gelegentlich sogar träge dahinfliessenden Fluss. Etwas straffer und auch kantiger muss die Fahrt aber aufgenommen werden, um unbeschadet das Ziel (der „Götterdämmerung“) zu erreichen.
Wer heute einen neuen Ring schmiedet, muss einiges wagen,  Altbewährtes klug mit neuen Ideen verküpfen,  Modisches allein genügt nicht. Der Beginn des pfälzisch-anhaltinischen Unternehmens immerhin lässt hoffen. In diesem Sinn: Glück auf!

Foto:Kiermeyer/Theater im Pfalzbau Ludwigshafen

Bunte Ballett-Perlen: ‚Malakhov & Friends‘ in der Deutschen Oper Berlin ****

15. November 2010TheaterkritikenNo Comments

Ein bisschen einförmig sind solche Gala-Abende ja schon: 15 kürzere Tanz-Piecen in raschem Wechsel, überwiegend Pas-de-deux aus grösseren Werken. Aber der Reiz solcher Veranstaltungen ruht auch weniger auf den einzelnen Choreographien als vielmehr auf der Präsentation einer ganzen Reihe hoch-karätiger Tänzerinnen und Tänzer.
Zm vierten Mal hat nun Vladimir Malakhov, Star und Chef des Berliner Staatsballetts, eine solche bunte Show zusammengestellt und dazu attraktive Gäste aus New York, St.Petersburg, Moskau und Tokyo eingeladen, ergänzt um Solisten aus dem hauseigenen Ensemble.
Die Bühne ist meist leer: der Hintergrund bleibt entweder dunkel oder strahlt in hell-leuchtenden Farben. Getanzt wird -  in geschickter Abfolge -  Klassisches und Modernes, Dramatisches und Komödiantisches. Wobei die choreographische Qualität schwankt: Brav-Hergebrachtes konkurriert mit Aufregend-Neuem. Doch das spielt nur eine untergeordnete Rolle – hier geht’s allein um die (durchweg) fabelhaften Tänzer.
Julie Kent vom American Ballet Theatre besticht erneut durch Souveränität und strenge Eleganz : zusammen mit Malakhov als Manon (Kenneth MacMillan), mit Wieslaw Dudek in Mozarts Jeunhomme-Konzert (Uwe Scholz). Yevgenia Obraztsova vom Marinsky-Theater St.Petersburg erweist sich als temperamentvoller Wirbelwind in Marius Petipa’s „Carneval de Venise“.
Das japanische Paar Mizuka Ueno und Naoki Tagagishi vom Tokyo Ballett zeigt sich komisch-clownesk zu Musik von Nino Rota im Auschnitt aus Maurice Bejarts „Dichterliebe“ und die beiden russischen Tänzer Natalia Ledovskaja und Semen Chudin aus Moskau begeistern mit dem in Berlin schon ewig nicht mehr zu sehenden Pas-de-deux aus den wunderbar-melancholischen „Abendlichen Tänzen“ von Tom Schilling.
Dazu Erstaunliches vom eigenen Ensemble: Beatrice Knop und Dmitry Semionov mit einem agressiven Geschlechterkampf zu elektronischen Tönen (Musik und Choreographie: Otto und Jiri Bubenicek aus John Neumeiers Hamburger Truppe),  Malakhov selbst präsentiert mit Nadja Saidakova das etwas ruppige ‚Verlassenheit“-Duett aus „Le Parc“ von Angelin Preijocaj. Zum Höhepunkt jedoch gerät ein Solo von Polina Semjonova: zur „Maskenball“-Quadrille von Johann Strauss spielt sie virtuos und auf charmanteste Weise mit der immer wieder unterbrochenen Musik und den (meist falschen) Erwartungen des Publikums (Ch.: Renato Zanella). Nur der Schlusspunkt des dreistündigen Abends will nicht so richtig überzeugen: Malakhov als „Sterbenden Schwan“ (Musik von Saint-Saens, choreographiert von Mauro de Candia) – Parodie oder unfreiwillige Komik?
Ein bunter Abend, manche seiner Perlen glänzen, manche strahlen eher matt – aber die exzellenten Tänzer machten (fast) alles wett.

Foto: Enrico Nawrath/Staatsballett Berlin

Melancholischer Glamour: ‚Somewhere‘ von Sofia Coppola ****

13. November 2010FilmkritikenNo Comments

Zuerst ein irritierendes Bild: in einer wüstenartigen Landschaft fährt ein schwarzer Ferrari scheinbar endlos im Kreis, erst nach etlichen Runden bremst das Auto, sein Fahrer – ein etwas nachlässig gekleideter Mitt-Dreissiger – steigt aus: der Hollywoodstar Johnny Marco (Stephen Dorff).  Marco ist ein gefragter Action-Star, aber im Augenblick hat er nichts zu tun. Er wohnt im luxuriösen Promi-Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard, schlägt seine Zeit mit Alkohol oder Sex tot, gelegentlich unterbrochen von Foto-Terminen oder Pressekonferenzen. Bis er eines Tages sich um seine elf-jährige Tochter Cleo (Elle Fanning) kümmern muss, da deren Mutter, Ex-Lebensgefährtin von Johnny, auf unbestimmte Zeit verreist (der Grund dafür bleibt unklar). Cleo hat bisher ihren Vater zwar in regelmässigen Abständen besucht – beide haben ein gutes Verhältnis zueinander – doch die neue Situation verändert die Beziehung. Obwohl beide nur alltägliche Dinge miteinander unternehmen – ein Luftgitarrenwettbewerb am Spiel-Automaten, Kochen, gemeinsame Ausflüge nach Las Vegas, eine kurze Reise nach Mailand zur einer (herrlich parodierten) Tele-Preisverleihung an Johnny – kommen sich Vater und Tochter menschlich immer näher, bildet sich ein tieferes, vertauensvolles Gefühl, entsteht eine echte Vater-Tochter-Zuneigung. Als Johnny – wie mit seiner Ex verabredet – Cleo nach einigen Wochen in einem Ferien-Camp abliefert, wird ihm die Oberfächlichkeit und Hohlheit seines bisherigen Daseins als im Wohlstand sich langweilender Hollywood-Star schmerzhaft deutlich. Er verlässt mit seinem hochtourigen Luxus-Auto das Promi-Hotel, doch wohin er fährt und was er nun zu tun beabsichtigt, bleibt offen.
Sofia Coppola, inzwischen 39 Jahre alt, erzählt in ihrem vierten Spielfilm diese schlichte Story in langsamen, meist ruhigen Bild-Sequenzen. Sie zeigt den inneren Leerlauf eines äusserlich sorglosen Lebens: Glamour und Luxus einer Gesellschaft, deren Dasein sich in oberfächlichen Aktionen erschöpft. Doch führt Sofia Coppola diese Welt nicht mit erhobenem Zeigefinger vor,  sondern mit sanfter Ironie und leiser Melancholie. Sozusagen mit anteilnehmender Distanz. Und schildert gleichsam nebenbei wie Johnny in seiner erwachenden, tieferen Zuneigung zur noch ganz kindlich-offenen Tochter zu ahnen beginnt, wo er Halt und Mittelpunkt in seinem Dasein finden könnte.
Sofia Coppola’s Handschrift: wenig Action, kaum Dialog, langsame Zooms der Kamera, raffiniert ausgesuchter Ton/Musik und ein hervorragendes Casting. Ideal: Stephen Dorff als attraktiver aber innerlich unruhiger Star Johnny Marco;  exzellent: die junge Elle Fanning als Tochter Cleo, die einerseits mit kindlicher Freude die spielerischen Unternehmungen mit ihrem Vater geniesst, in deren strahlenden Augen aber auch schon das (noch unbewusste) Wissen um die Schattenseiten seines Lebens sich andeutet.
Sofia Coppola, die auch das Drehbuch verfasste, erweist sich mit diesem äusserlich so unspektakulären Film erneut als eine der grossen Regie-Frauen Hollywoods.

Poster / Verleih: Tobis

zu sehen: CineStar im Sony Center (OV), Hackesche Höfe (OmU), Neues Off (OmU), Cinemax Potsdamer Platz, Filmtheater am Friedrichshain, Neue Kant Kinos, Kulturbrauerei, Yorck, Thalia Potsdam

Flüchtige Begegnungen: ‚Orly‘ von Angela Schanelec ****

10. November 2010FilmkritikenNo Comments

Ein Vormittag auf dem Flughafen Orly im Süden von Paris. Menschenmassen laufen durch die gläsernen Hallen, checken ein, essen, kaufen ein in den diversen Shops, warten. Die Kamera gleitet neugierig über Passagiere, Service- oder Flugpersonal, schält einzelne Passanten in ruhig-gleitenden Kamera- Zoom’s  heraus. Vier kurze Geschichten lässt die Regisseurin Angela Schanelec dabei knapp oder bruchstückhaft andeuten.
Eine junge Frau kommt ins Gespräch mit einem auf der Bank neben ihr sitzenden, attraktiven Mann: sie hat ihre Mutter in Paris besucht und fliegt jetzt nach Montreal zu ihrem Mann zurück, er ist französicher Geschäftsmann in San Francisco, will aber wieder in seine Heimatstadt Paris (wo auch sein Sohn aufwächst) zurück.
Eine leicht verschnupfte Mutter mit halbwüchsichem Sohn fliegt zur Beerdigung ihres geschiedenen Mannes nach Marseille. Beim Warten auf den Abflug erzählt sie dem Sohn von einem lange zurückliegenden Seitensprung.
Ein junges deutsches Rucksack-Paar wartet eher stumm, er studiert die Passanten, sie liest in einem Buch. Einmal ergibt sich ein kurzes, freundliches Gespäch mit der daneben sitzenden arabischen Frau mit kleinem Baby.
Alle diese angedeuteten Geschichten erzählt die Regisseurin in langen, ruhigen Einstellungen, sanft rhythmisiert geschnitten. Sie hat ihre Schauspieler unter die normalen Besucher des Flughafen postiert und von weitem mit dem Teleobjektiv gefilmt, so dass der Zuschauer zunächst nicht zwischen den Darstellern und den zufällig vorbeilaufenden, normalen Menschen unterscheiden kann.
Eine einzige Geschichte spielt ausserhalb des Flughafens , bildet gleichsam den dramaturgischen Rahmen. Eine Frau namens Sabine fährt zu Beginn des Films mit dem Taxi durch Paris nach Orly; sie hat sich soeben von ihrem Mann Theo getrennt, der am Handy vergeblich versucht, sie umzustimmen. Erst im Flughafengebäude liest sie – in der Anonymität der wartenden Masse – seinen (poetisch) bewegenden Abschiedsbrief. Plötzlich eine Lautsprecherdurchsage: der Flugbetrieb wird eingestellt, alle Personen müssen die Terminals verlassen, Sabine – und wahrscheinlich alle anderen auch – kehren nach Paris zurück.

Ein leiser, kunstvoll komponierter Film. Eine ruhige Abfolge schöner Bilder (Kamera: Reinhold Vorschneider), die zugleich die Fantasie und Geduld des Zuschauer fordern, sich auf fremde Gesichter, Blicke und Geschichten einzulassen und eventuell diese selbst fortzuspinnen, weiterzudenken. Ästhetisch elegantes,  gedanklich anregendes Kino.
Poster / Verleih: Piffl Medien GmbH

zu sehen: fsk (OmU), Hackesche Höfe (OmU), Kant-Kino

Politischer Leerlauf: ‚Carlos – DerSchakal‘ von Olivier Assayas **

9. November 2010FilmkritikenNo Comments

Was ist die Wahrheit über Carlos, den meistgesuchten Terroristen der 1970er und -80er Jahre? Aus historischen Fakten und freier Ergänzung – was besonders die Beziehungen der handelnden Personen untereinander betrifft – haben der französische Regisseur Olivier Assayas und sein Drehbuchautor Dan Franck ein Bio-Pic inszeniert, das vor allem auch die filmischen Gesetze eines Polit-Thrillers erfüllen will.  Eigentlich die Auftragsarbeit für ein mehrteiliges Fernseh-Spektakel,  jetzt (vorab) in einer dreistündigen (deutschen) Kino-Version zu sehen.
Carlos ist der selbstgewählte Deckname des gutbetuchten Venezolaners Ilich Ramirez Sanchez. Der Film beginnt mit der Bewerbung des gutaussehenden jungen Mannes um Aufnahme bei der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“(PLFP). Um deren Vertrauen zu gewinnen, begeht er kaltblütig Mordeanschläge in London und Paris, immer ein flottes marxistisches Wort gegen den Kapitalismus auf den Lippen. Er erhält – trotz einiger Bedenken -  den Auftrag, 1975 die Wiener OPEC-Konferenz zu stürmen und vor allem den saudi-arabischen Ölminister zu beseitigen. Doch Carlos hat sich übernommen und die politische Gemenge-Lage falsch eingeschätzt: das erpresste Flugzeug muss unfreiwillig in Algier landen und endet mit der mit Freilassung aller Geiseln. Es ist ein mit viel Dollars verbrämter Misserfolg, der promt mit Carlos‘ Entlassung aus den Reihen der Palästinenser betraft wird. Von nun an versucht der inzwischen weltweit gesuchte Terrorist mit dem Sex-Appeal eines Che Guevara eine eigene Terror-Organisation aufzubauen, verhandelt und verbandelt sich  mit sämtlichen Geheimdiensten der Ostblocks und der arabischen Länder. Vor allem deutsche Revolutionäre – insbesondere weibliche – , die sich vom „2.Juni“ getrennt haben, schliessen sich dem südamerikanischen Macho an. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges (dem Fall der Berliner Mauer) verliert Carlos seine politische Basis, der persönliche Niedergang beginnt: die Ehe zerbricht, er wird fett und krank, bis der Sudan ihn Mitte der 90er Jahre an denn französischen Geheimdienst ausliefert. Verurteilt in Paris für seine Morde in Frankreich, sitzt er bis heute im Gefängnis.
Ein Leben wie für den Polit-Krimi erdacht : und so wirkt auch der Film von Olivier Assayas (vor allem in der ersten Hälfte) wie ein flotter Thriller mit einigen effektvollen Action-Szenen – besonders brillant: das fast eine Stunde dauernde, blutige OPEC-Attentat. Dazwischen immer wieder kammerspielartige Passagen, die Carlos als brutalen und narzisstischen Macho zwischen Alkohol-Exzessen und Sex-Eskapaden zeigen. Auch wenn der Film sich überwiegend an historische Fakten hält, wirkt diese gespielte Biographie oft sehr klischeehaft und oberfächlich: mit einem unsympathischen  und egoistischen Negativ-Helden, linke Ideen laut propagierend, aber wie ein übler Kapitalist handelnd : die perfekte Kino-Schablone eines Terroristen. Die politischen Zusammenhänge deutet der Film in kurzen Szenen zwar an – doch durchschauen vermag sie nur ein einschlägig vorgebildeter Zuschauer. Die politisch Handelnden – Minister wie Geheimdienstler – wirken im Film alle gleich und unpersönlich: durchtriebene, schlitzäugige Gangster, denen es nur um den eigenen Vorteil geht, und die sich darum dem jeweiligen politischen Wind anpassen. Differenziert wird kaum.
Assayas mag seinen an vielen Orten und in zahlreichen Sprachen gedrehten Film kritisch gemeint haben, doch das intellektuelle Ergebnis bleibt mager und vorhersehbar. Und auch die Schauspieler (Edgar Ramirez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer u.a.) wirken entsprechend blass: wechseln zwar Frisuren und Kleider, vermögen aber kaum Charakter zu zeigen.
Nachgespielte Dokumentationen sind immer ein heikles Wagnis  -  und auch diesem „Carlos“ gelingt der Spagat zwischen historischer Realität und kritisch-erhellender Fiktion nur in wenigen Momenten.

Foto / Verleih: NFP

zu sehen: Odeon (OmU), CinemaxX Potsdamer Platz, Delphi, International, Kulturbrauerei, Yorck (Länge: 187 Min.)
ausserdem in den Kinos: Rollberg, Hackesche Höfe, International in der Original-Fassung und -Länge: 330 Min., in zwei Teilen

Argentinische Polit-Schnulze: “ In Ihren Augen“ von Juan Jose Campanella ***

3. November 2010FilmkritikenNo Comments

Die tötliche Vergewaltigung einer jungen Frau erregt 1974 die Justiz in Buones Aires. Ein untergeordneter Beamter glaubt anhand diverser Fotografien den Mörder zu erkennen. Mit Hilfe einer jungen Richterin überführt er den Täter, doch dieser kommt kurz danach wieder in Freiheit: wird  Spitzel des staatlichen Geheimdienstes.
25 Jahre später erforscht der jetzt pensionierte Beamte noch einmal den alten Fall : als Vorlage für einen Roman.
Regisseur Juan Jose Campanella versucht in diesem oscar-gekrönten Film einen politik-kritischen Thriller mit einem hollywood-tauglichen Melodram zu verknüpfen: das fragwürdige Rechts-System im Argentinien Peron’s als Umfeld  einer uneingestandenen Liebe zwischen dem literarisch-ambitionierten Justitz-Beamten und seiner bildhübschen Vorgesetzten und Richterin. Doch die als publikums-wirksame erhoffte Verbindung von entlarvendem Justiz-Krimi und gefühlsmächtiger Liebes-Romanze gerinnt schnell zur allzu platten Schmonzette. Weder gelingt eine scharfe Analyse des argentinischen Justiz-Systems – dazu bleiben alle Figuren  – vom Oberstaatsanwalt bis zum gedungenen Mörder – viel zu klischeehaft – noch taugt die verdruckte Love-Story zwischen Richterin und ihrem untergebenen Beamten zu einem herzerweichenden, anrührenden Liebesdrama – dazu ist die Beziehung schlicht zu langweilig und zu vorhersehbar.
Doch der Film ist geschickt inszeniert, mischt spannungsvoll Rückblenden und Gegenwart, prunkt mit schickem Decor und eleganten Kostümen (teils im Stil der 70er Jahre) und beeindruckt vor allem durch attraktive Darsteller (Ricardo Darin, Soledad Villamil).
Am Ende triumphiert aber ein Kintopp konventioneller Machart über sein kritisches Engagement – zumindest für den europäischen Betrachter.

Foto / Verleih: Camino-Filmverleih

zu sehen: Hackesche Höfe (OmU), Rollberg (OmU), CinemaxX Potsdamer Platz, Filmkunst 66, Kulturbrauerei, Passage Neukölln

Auf hohem Kothurn: “ Ödipus auf Kolonos“ im Berliner Ensemble****

3. November 2010TheaterkritikenNo Comments

Das sehr selten aufgeführte Stück von Sophokles (enstanden um 407/406 v.Ch.) berichtet von Exil und Tod des aus seiner Heimat Theben verbannten Ödipus. Blind und krank, geleitet von seiner Tochter Antigone, erreicht er den heiligen Hain in Kolonos bei Athen. Dort – so das Orakel – erwarte ihn ein sanfter Tod.  In vielfach heftigen, verbalen Auseinandersetzungen mit dem Chor der einheimischen, alten Männer und mit dem ihn beschützenden Athener König Theseus verteidigt Ödipus noch einmal seine Schuld als ungewollt. Aber: er unterwirft sich gleichzeitig dem von den Göttern verhängten Schicksal – und wird deshalb mit einen sanften Tod belohnt.
Regisseur Peter Stein gelingt es, aus der antiken Tragödie eine auch heute noch aktuell wirkende Parabel auf Schuld, erduldetes Leid und Tod, aber auch auf ein vielschichtiges Spiel um Macht, Staat und individuelle Würde zu gestalten. Die fast leere, aber raffiniert ausgeleuchtete Bühne zeigt in ihrer Mitte einen dichten, hellen Wald – von einer niedigen (Sitz-)Mauer umgeben. Ein (exzellent artikulierender) Chor alter Männer in moderner, ländlicher Kleider umkreist Ödipus in wuchtig-choreographierter Formation. Kreon, der heuchlerische Schwager, fährt -  flammend rot gewandet -  im Rollstuhl herein, der kriegerisch-brutale Sohn Polyneikes – in schwarzem Leder – versucht vergeblich den Segen des Vaters für einen (tödlichen) Kampf gegen den Bruder zu erlangen. Ödipus findet in all diesen Gesprächen und Auseinandersetzungen immer mehr zu sich selbst, zum einem inneren Gleichgewicht  und verschwindet in ruhiger Gelassenheit im Hain, während ein gewaltiges Gewitter und ein den Hintergrund jäh erleuchtender (Atom-)Blitz seinen Tod verkünden. Die klagenden Töchter kehren daraufhin nach Theben zurück, um den dortigen Bruderkampf – wenn möglich – noch zu verhindern.
Peter Steins kluge und dichte Regie verknüft überzeugend griechisches Pathos mit heutiger Psychologie, verbindet wirkungsvoll realistische mit abstahierenden Theaterformen – und vermag vor allem die dichterische Sprache zum Leuchten zu bringen (in einer eigenen modernen, klaren deutschen Übertragung).
Klaus Maria Brandauer ist Ödipus: ein vitaler Greis, verzweifelt, wütend, schmerz-gepeinigt, aber auch väterlich und hoffnungsvoll, am Ende ergeben und das Schicksal bewusst ertragend. Eine grosse, beeindruckende Leistung, die in Jürgen Holtz‘ schlau-hinterfotzigem Kreon einen ebenbürtigen Gegner findet. Die meisten der jüngeren Darsteller vermögen dieses schauspielerische Niveau nicht ganz zu erreichen, bei ihnen verschmelzen die einstudierten sprachlichen und darstellerischen Gesten (noch) nicht zu einer lebendigen Einheit.
Sophokles und Stein : ein grosser Abend im BE – wenn auch die enorme Faszination, mit der die antiken Dramen an der alten Schaubühne einst die Theaterwelt erregte, sich heute nicht mehr einzustellen vermag.

Foto:Monika Rittershaus/Berliner Ensemble

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