Meine BERLINALE 2019

THE KINDNESS OF STRANGERS von Lone Scherfig (Dänemark)**

Eine junge Frau, Clara, flieht vor ihrem gewalttätigen Mann, einem Polizisten, mit ihren beiden kleinen Söhnen nach New York. Als der Schwiegervater dort ihr jede Hilfe verweigert, sucht sie Essen und Unterschlupf in den öffentlichen Hilfs-Organisationen, in Suppenküchen, Obdachlosenheimen, später bei der hilfsbereiten Krankenschwester Alice in einer kirchlichen Einrichtung. Oder sie klaut auf einer Party in einem russischen (Nobel-)Restaurant Essen für ihre kleinen Kinder. Dabei trifft sie auf den jungen Manager dieses „WinterGarden“ – der Beginn zum glücklichen Ausgang des Films. Panorama-Aufnahmen von New York wechsel mit schön gefilmten Sozial-Stationen, wo auch die Ärmsten der Armen aufeiander angewiesen sein müßten („The Kindness of Strangers“), dazu viel ( auch witziger) Dialog sowie als skurrile Einlage die Figur des kauzig-komischen Besitzers des Russen-Restaurants, in dem die Wege aller Personen sich kreuzen. Unterlegt mit rauschendem Geigensound.  Ein Film zum Wohlfühlen – trotz aller vorgeführten Mißstände,. Mainstream – so glatt wie solide.

 

GRACE A DIEU von Francois Ozon (Frankreich)***

Im Bistum Lyon soll der französische Priester Bernard Preynat, der auch die dortigen Pfadfinder betreute, Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre etwa 70 Jungen sexuell mißbrauchct haben. Obwohl Eltern wie Kirchenleute davon wußten (oder ahnten) wurde geschwiegen. Bis 2016 einige der inzwischen erwachsenen und verheirateten  Männer sich zusammen taten und die Gruppe „La Parole Liberèe“  gründeten. Ziel war die juristische Anklage (trotz Verjährung) gegen Preynat und den ihn deckenden Kardinal Philippe Barbarin. Der Prozeß soll in diesem Frühjahr 2019 mit einem Urteil zu Ende gehen. Francois Ozon ist durchs Internet auf die Lyoner Opfergruppe aufmerksam geworden, hat sich mit den Mitgliedern unterhalten und dann daraus einen Film entwickelt. In Spielszenen wird das Schicksal dreier dieser Männer nacherzählt, ihre seelische Verwundung und deren Auswirkung auf ihr späteres Leben und das ihrer (teils mitwissenden) Eltern, Ehefrauen oder Kinder. Ozons Film richtet sich nicht gegen den Glauben, aber gegen die die Katholische Kirche, gegen ihr Wegschauen, Verleugnen und Vertuschen. Ozon konzentriert sich sich allein auf die Opfer. Dabei neigt der Film zu ausführlichen Worten (meist aus den Off vorgelesenen Brief-Dokumenten) und inhaltlichen Wiederholungen. Dennoch besitzt der halb-dokumentarische Spielfilm eine starke Ausstrahlung.

 

DER GOLDENE HANDSCHUH von Fatih Akin (Deutschland)*

Verfilmung des Bestseller-Romans  von Heinz Strunk über die bekannt-berüchtigte Hamburger Hafen-Kneipe und über den dort verkehrenden vierfachen Frauenmörder Fritz Honka bis zu dessen Verhaftung 1975. Der Film spielt fast ausschließlich zum Einen  in dieser Kaschemme, die von alten Säufern und heruntergekommenen Wracks beiderlei Geschlechts bevölkert wird, und zum Anderen  in der schäbigen Dachwohnung Honkas, wohin er seine meist älteren Frauen abschleppt. tötet und ihre Leichen zersägt. Wohl um allem Pitoresken dieses Milieus zu entgehem, zeigt Akin alles Schreckliche und Häßliche besonders drastisch und übertriben, bis fast ins Grot. Die Maskenbildner haben ganze Arbeit geleistet, um die Gesichter und Körper der Darsteller zu verunstalten, die Schauspieler selbst  müssen betont ordinär srechen und den mimischen Ausdruck bis ins  Karikaturistische (Monster-Klischee!)  steigern. Aikin will in seinem Film  das Phänomen der Gewalt  in iihrer schlimmsten Form und ungeschönt zeigen, Doch er vermag nur Scheuslichkeiten in Pappkulissen und Kunstblut zu präsentieren, erhellend ist dieser „Goldenen Handschuh“ kaum.

KIZ KARDESLER (A Tale of Three Sisters) von Emin Alper (Türkei)*

Drama um drei Schwestern in einem abgelegenen Bergdorf in Anatolien. Alle drei Töchter wurden von den armen Eltern in die Stadt geschickt, um dort zu arbeiten und ein besseres Leben zu führen.  Aber alle drei kehren aus unterschiedlichen Gründen zum streng konservativen Vater zurück. Die älteste wurde von ihrem Arbeitgeber geschwängert und darum mit dem Dorftrottel, einem Schafhirten, verheiratet, Die mittlere Tocher bekam Alpträume und wurde krank, die jüngste von ihrem Arbeitgeber entlassen. Diese Schicksale werden in überlangen Dialogen in der schlichten, väterlichen Hütte oder gelegentlich vor gewaltiger Bergkulisse ausführlichst erzählt, zu Beginn des Films im Sommer, zum Schuß im nebligen Winter. Erstaunlich: die drei Töchter – untereinander verzankt – fügen sich bereutwillig der alten Herrschafts-Tradition und der Film schildert diese gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse fast ohne Kritik. Ziemlich langweilig.

 

L’ADIEU À LA NUIT von André Téchiné (Frankreich)****  – außer Konkurrenz –

Muriel (Cathérine Deneuve) betreibt in Südfrankreich eine Obstplantage und einen Reiterhof. Ihr Enkel Alex (Kacey Mottet Klein), den sie großgezogen hat, kommt zu Besuch, um sich zu verabschieden, da er zusammen mit seiner Freundin Leila (Oulaya  Amamra), Pflegerin im nahen Altersheim, für längere Zeit nach Kanada reisen will. Doch bald entdeckt Muriel, daß Alex zum Islam kovertiert ist und nicht nach Kanada, sondern nach Syrien ausreisen will. Sie versucht, ihn daran zu hindern, sperrt ihn im Pferdestall ein, bittet einen zurückgekehrten Dschihadisten auf den Hof, um ihn aufzuklären:: vergeblich!  Schließlich wendet sie sich an die Polizei, die Alex in letzter Minute im Reisebus  an der Landesgrenze zu Spanien verhaftet und ihn – erklärt der Beamte der verzweifelten Muriel  – vor Gericht stellen wird.

Der 75-jährige André Téchiné  hat mit seiner großen Kino-Erfahrung einen sehr spannenden, klug gebauten und sinnlich ansprechenden Film gedreht – ohne jeden moralischen Zeigefinger, aber mit dem Erstaunen des Älteren über den Fanatismus der jugen Generation. Hervorragend unterstützt durch ein überzeugendes Darsteller-Ensemble – allen voran die älter und fraulicher gewordene Cathérine Deneuve als nüchterne, aber sehr menschlich handelnde Geschäftsfrau und Obst-Plantagen-Betreiberin (der Film spielt an 5 Tagen zur Baumblüthenzeit)) und Kacey Mottet Klein („Mit siebzehn…“) als energie-geladener, aber verbohrter Enkel Alex, der auch nach  Verhaftung und Verurteilung seine Überzeugung wohl nicht aufgibt… Konventionel in seiner Erzählweise, aber ansprechendes französisches Kino – ielegant und intelligent.

 

VARDA PAR AGNÈS     Dokumentarfilm (Frankreich)****

9o Jahre ist sie alt, die berühmte französische Regisseurin Agnès Varda. Vergnügt sitzt sie in ihrem Regiestuhl und plaudert, mal vor großem Publikum in der Pariser Oper, mal in einem Kinosaal vor kleinem Kreis, mal spricht sie einfach direkt in die Kamera. Munter und ohne Unterbrechung erzählt sie über sich und ihre Arbeit, über ihre Nachbarn und Freunde, berühmte und wenig bekannte, wohltuend zurockhaltend über ihre engere Familie. Nicht chronologisch, sondern wie es ihr gerade in den Sinn kommt, berichtet sie über einige Filme, die sie gedreht hat, über „Cléo de 5 à 7“, dazu werden Ausschnitte vorgeführt und von ihr kommentiert, über „Le Bonheur“ oder – im Gespräch auf freier Wiese –  mit Sandrine Bonnaire über die Arbeit an „Vogelfrei“. Aber auch über gescheiterte Projekte wie zum 100jährigen Jubiläum der Französischen Republik.  Die stattliche und  gut gelaunte Regisseurin erinnert sich auch an ihre Lieblings-Strände in Frankreich, an die turbulenten Jahre, die sie mit ihrem Mann Jacques Demy in Los Angeles und Hollywood verbrachte, aber auch an ihre beruflichen Amfänge als Theater-Fotografin beim Festival d´ Avignon Anfang der 50er Jahre, und an die späteren Arbeiten der bildenden Künstlerin, als sieauf der Biennale in Venedig bewegte Bilder von herzförmigen Kartoffeln austellte. Ein bißchen lang ist die filmische Plauderei zwar ausgefallen, aber die alte Dame erzählt ihre Geschichten mit soviel freundlichem Charme und auch trockenem Witz und weiß dies überzeugend mit passenden Bildern zu illustrieren, daß die 115 Minuten Länge „wie im Flug“ vergehen.

 

YA MIAO ZHONG (One Second) von Zhang Yimou (China)

Der neue Film des berühmten chinesischen Regisseurs  Zhang Yimou, der eine Episode aus der Zeit der Kulturrevolution erzählen soll, wurde während des laufenden Wettbewerbs durch Peking zurückgezogen, angeblich wegen technischer Probleme bei der Postproduktion (?). Die Berliner Festspielleitung präsentierte in der angesetzten Vorstellung im Berlinale Palast und den ersten Wiederholungen im Friedrichstadtpalast sattdessen  (außerhalb des Wettbewerbs)  einen älteren Film des Regisseurs : „HERO“  aus dem Jahr 2003. Einen Historien-Schinken aus der Zeit, als China noch aus unterschiedlichen Königsreichen bestand und deshalb um deren Vereinigung gekämpft wurde. Massenszenen von reitenden Kriegern und virtuose Schwertduelle, bei denen die Kämpfenden anmutig duch die Luft fliegen, bilden den Mittelpunkt des ganz auf Schauwerte reduzierten Farb-Spektakels. Trotz üppiger Ausstattung, raffinierten Bildern und kunstvoller Cadrierung – wirkt der Film heute ziemlich fade und langweilig.

 

LA PARANZA DEI BAMBINI  von Claudio Giovannesi (Italien)**

Der Film beschreibt wie eine Gruppe neapolitanischer Jugendlicher sich in die Machenschaften krimineller Banden verstricken, bzw. sich verstricken lassen. Im Mittelpunkt steht der 15jährige Nicola, der zunächst beobachtet, wie seine Mutter, die einen kleinen Geschäftsstand betreibt, Schutzgeld zahlen muß. Um sie davon zu befreien, läßt er sich mit den Erpressern ein. Als Gegenleistung verlangen diese zunächst kleine Hilfdienste wie Drogen an Klienten zu übergeben oder selbst Schutzgelder einzukassieren. Gekötert mit Geld für neue Klamotten oder teure Disco-Besuche,, geraten Nicola und seine Freunde immer enger in die Kreise mafiöser Verbrechen, das Ende bleibt offen… Die Vorlage ist ein Roman des bekannten (und unter Polizeischutz lebenden) Journalisten Roberto Saviano („Gomorrah“), der auch das – mit einem silbernen Bären ausgezeichnete – Drehbuch zu diesem Film schrieb.  Doch Regisseur Claudio Giovannesi überdeckt die radikal-gezeichnete Realität mit den spektakulären Mitteln des üblichen Gangster-Thrillers: oppulente Breitwand-Bilder, rasche Schnitte, pitoreske Kulisse (Neapel zu jeder Jahreszeit!), gut aussehende Darsteller-Typen, rasantes Tempo. Statt kritischer Zustandsbeschreibung – ein durchschnittlicher, wenn auch effektvoller Unterhaltungs-Krimi.