Kremel-Intrigen: ‚Boris Godunow‘ in der Deutschen Oper Berlin****

Boris GDie Oper „Boris Godunow“ des russischen Komponisten Modest P. Mussorgskij liegt in unterschiedlichen Fassungen oder Bearbeitungen vor, die sich stark voneinander unterscheiden. Die Deutsche Oper Berlin hat in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden eine Inszenierung des englichen Regisseurs Richard Jones übernommen, die auf der sogenannten „Urfassung“ beruht. Mussorgskij hat sie in den Jahren 1868/1870 komponiert; sie ist unter allen Fassungen die inhaltlich knappste und musikalisch schroffste Deutung des berühmten Machtkampfes um den Zaren Godunow. Das Libretto hat der Komponist aus einem Versdrama von Puschkin kompiliert, das in sieben nur lose miteinander verbundenen Szenen Bilder eines mittelalterlichen Russlands entwirft – zwischen Machtkämpfen am Zarenhof in Moskau und dem Leben des überwiiegend armen Volkes in den Weiten des Landes.

Regisseur Jones blättert diese sieben Szenen pausenlos nacheiander auf (Dauer: 2,15 Stunden),  verzahnt sie geschickt und läßt sie gleichsam als lebende Bilder ablaufen, ganz einer strengen Ästetik verpflichtet, die sich an russischen Meistern von Rubeljow bis Tarkowski zu orientieren scheint. Zwar wird die Psychologie der einzelnen Personen in Bewegung und Gestus genau ausgeleuchtet, aber immer in einem choreographischen Rahmen gesetzt. Die Bühne (Miriam Buether) ist zweistöckig: unten ein leerer, dunkler Raum, in den gelegentlich ein Stuhl, ein Tisch oder eine Bilderwand herein- und heraus-geschoben werden, und in dem das Volk sich zu beeindruckenden Gruppen postiert – mal in folkloristisch-festlichen Kostümen zur Zaren-Krönung, mal in dunkel-zeitlosen Gewändern als aufbegehrende Masse. Der obere Teil der Bühne zeigt eine umlaufende, kuppelüberwölbte Galerie, auf der sich der zum Wahnsinn führende Alptraum Godunows von der Ermodung des kindlichen Thronfolgers Dimitrij pantomimisch mehrfach wiederholt – dabei hält der Junge immer einen Kreisel in der Hand, ein Symbol endloser Wiederholung. 

Diese streng-formalisierte, aber zugleich elegant-flüssige Regie ermöglicht den Sängern, ihre Figuren auf deren wesentliche Charakterzüge zu konzentrieren und diese deutlich und plastisch zu entfalten. Unter den vielen kleinen und mittleren Partien überzeugen Burkard Ulrich als Fürst Schuiskij, Ante Jercunica als Pimen, Robert Watson als falscher Dimitrij, Oleg Budaratskiy als Waarlam sowie – eine ungewöhnliche Besetzung! – der Dortmunder Chorknabe Julius Röttger in der Rolle des jungen Fjodor, dem Sohn und Nachfolger von Boris Godunow. Überragend der estnische Sänger Ain Aigner in der Titelrolle, ein Boris von machtvoller Ausstrahlung und intensiver Gestaltung, ein kraftvoller Baß-Bariton, der seine flexible Stimme so perfekt wie differenziert einzusetzen versteht. Unterstützt wird das gut ausgewählte Solisten-Ensemble durch den klangvoll-mächtigen Chor der Deutsche Oper (einschließlich eines Extra- und eines Kinderchores) sowie duch das in Hochform musizierende Orchester. Alle unter der anregenden Leitung des hier noch wenig bekannten, ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits, inzwischen Musikchef in Weimar. Souverän koordiniert er Bühne und Orchester und versteht es zugleich die folkloristisch eingefärbte Klangfülle wie die ungewohnten Schroffheiten der Musik dieses „Ur-Boris“  deutlich hör- und erlebar zu machen.

Sicherlich, insgesamt ein konventioneller Opern-Abend, der Anspielungen auf Aktuell-Politisches meidet und auch keine neue Sichtweise auf Russisches behauptet, dafür aber bietet diese Neu-Produktion einen klar und schön erzählten Bilderbogen sowie viel anregend-musikalischen Genuß.

Foto: Bernd Uhlig /Deutsche Oper Berlin (Ain Anger/Boris und Julius Röttger/Fjodor)

Premiere: 17.Juni 2017

Weitere Vorstellungen: 23./ 27.Juni // 1./ 4./ 7.Juli 2017