Liebesraserei: „Armida“ in der Komischen Oper ****

Eine selten gespielte Oper von Christoph Willibald Gluck,  geschrieben in der Tradition der franzoesischen „tragedie lyrique“,  uraufgefuehrt 1777 in Paris. Das Libretto schildert die ungluecklich endende Liebesgeschichte zwischen der Zauberin Armida und dem Kreuzritter Rinaldo. Gluck gestaltet daraus das – fuer seine Zeit – ungewoehnlich scharfe Psychogramm einer maechtigen Frau, die alle und alles beherrscht; die sich aber widerwillig verliebt und, als sie verlassen wird,  in Wut und tiefe Verzweiflung faellt.
Der katalanische Regisseur Calixto Bieito („Die Entfuehrung aus dem Serail“, Komische Oper 2003/04) sieht diese Liebestragoedie gleichsam durch die Brille eines zeitgenoessischen Marquis de Sade. Er zeigt eine schoene, blonde und sehr selbstbewusste Frau, die sich jede sexuelle Freiheit nimmt: nackte Maenner umschwirren sie, wie die beruehmten Motten das Licht. Den huebschen Rinaldo, der zunaechst kein Interesse an ihr zeigt, bedroht sie deshalb mit dem Revolver, doch abzudruecken vermag sie nicht: langsam geraet ihre Selbstkontrolle ins Wanken, zumal auch Rinaldo ihr gegenueber schwach wird – Sex und Liebe triumphieren. Doch Rinaldo wird von Freunden gesucht und verlaesst mit ihnen Armidas kuehl-weisse Wohnlandschaft, nicht ohne diese zuvor brutal zu verwuesten. Allein und zurueckgelassen sitzt die einst so selbstbeherschte Frau buchstaeblich vor den Truemmern ihrer Liebe, doch als Rinaldo (entgegen dem Libretto) noch einmal kurz zurueckkehrt, schlagen Armidas Enttaeuschung und Verzweiflung in blanke Rachsucht um – sie erschiesst den ungetreuen Liebhaber.
Bewundernswert ist die Stringenz mit der Bieito diese Liebesraserei vorfuehrt. Die phantasievolle theatralische Umsetztung, die Genauigkeit der Personenfuehrung, das raffiniert-einfache, aber variable Buehnenbild (Rebecca Ringst), die eleganten Kostueme (Ingo Kruegler)sowie eine effektvolle Lichtgestaltung (Franck Evin) lassen ueber manch leerlaufende Aktion der nackten Statisten hinwegsehen. Vor allem aber dient Bieito’s Regie der Musik. Unter dem Spezialisten fuer historische Auffuehrungspraxis, Konrad Junghaenel,  laeuft das Orchester der Komischen Oper zur Hochform auf: trocken im Ton, mal zaertlich, mal rauh malen die Musiker Armidas Lust und Qual detailfreudig und kraftvoll aus. Ein schnelles Tempo wird vorgegeben: kurze Arien, Duette, Ensemble- und Chorszenen fliesen fast ineinander – die Oper scheint durchkomponiert – eine vorweggenommene Gross-Form.
Im Mittelpunkt der Auffuehrung: die Schwedin Maria Bengtsson. Mit hohem Einsatz – darstellerisch wie musikalisch – zeichnet sie das Psychogramm Armidas vielschichtig, wandlungsfaehig und aeusserst attraktiv. Das uebrige Ensemble bleibt huebsche Staffage.
Ein grosser Minuspunkt dieser Produktion aber ist die mangelnde Textverstaendlichkeit. Wenn heute die Saenger leider nicht mehr genau zu artikulieren verstehen, dann muessen mindestens deutsche Uebertitel fuer ein Mindestmass an textlicher Kenntnis sorgen. Dafuer ist die Leitung des Hauses verantwortlich.
Doch trotz solcher Einwendungen: sicherlich eine der besten Inszenierungen der Komischen Oper in juengster Zeit.

Foto: Komische Oper/David Baltzer