Packend: „Lear“ in der Komischen Oper ****

Vor ueber einem Vierteljahrhundert fand in der Komischen Oper die Berliner Erstauffuehrung des „Lear“ von Aribert Reimann statt  (Inszenierung Harry Kupfer/ Dirigent Hartmut Haenchen) – damals ein grosser Erfolg. Dass dem Komponisten mit dieser Tragoedie nach Shakespeare eine der bedeutendsten Opern nach dem 2.Weltkrieg gelang, beweisen nicht nur zahlreiche Auffuehrungen in aller Welt, sondern bestaetigt auch die neue, und damit zweite Inszenierung am Haus in der Behrenstrasse – wiederum ein eindrucksvoller Theaterabend.
Regisseur Hans Neuenfels setzt dabei neue Akzente. In einem hellen, neutralem Raum zeigt er eine kuehl-distanziernde Szenenfolge, die auf alles Spektakulaere oder Provokative weitgehend verzichtet. Stattdessen die genaue und farbig-effektvolle Zeichnung der Figuren und ihrer Handlungen: Lear, grau meliert, in Cordhose und Strickjache, die Toechter und der Hofstaat in modisch-schicken, leicht bizarren Kleidern. Ihre typisierten Charaktere, ihre oft starken Emotionen demonstrieren sie in theatralisch- heftigen, plastischen Aktionen. Dabei kommen nur die allernoetigsten Requisiten – ein paar durchsichtige Plastikmoebel oder steife Kinderpuppen – zu Einsatz. Lediglich einmal tauchen Neuenfels‘ beruehmte „nackte Knaben“ auf – diesmal als hechelnde Hunde am Gaengelband der boesen Toechter. Selten war Neuenfels so spartanisch und schnoerkellos wie bei diesem „Lear“.
Diese Spielart des knappen, kuehlen Zeigens spricht allerdings weniger das Herz als den Verstand des Publikums an  – statt  Mitgefuehl : intellektuelle Einsicht.
Den entscheidend-neuen Akzent legt der Regisseur nicht auf die Auseinandersetzung mit der (Koenigs-)Macht und ihrem Verlust, sondern auf die bittere Konfrontation mit Alter und Tod. Neuenfels bedient sich zur Verdeutlichung dabei der Figur des Narren, der sich am Ende des ersten Teils in einen Knochenmann verwandelt.  Als solcher begleitet er Lear von nun an stumm und steht ihm auch am Ende ganz sanft beim Sterben bei  (im Original-Libretto gibt es die Figur des Narren, einer Sprechrolle,  nur im ersten Teil,  im zweiten kommt er nicht mehr vor). Elisabeth Trissenaar verkoerpert diese neu erfundene Doppelrolle schlicht, aber mit starker Praesenz.
Doch Reimanns „Lear“ lebt vor allem durch seine Musik: ohrenbetaeubende Blechgewitter fuer den Sturm auf der Heide, tiefliegende Streicherklaenge fuer die Szenen des Todes. Die Singstimmen, kantabel und virtuos, charakterisieren eindringlich die einzelnen Personen. Im Mittelpunkt:  Lear, den der Islaender Tomas Tomasson mit einem kernig-edlen Bass-Bariton, deutlicher Artikulation und hoechster Intensitaet gestaltet – eine ganz exzellente, auch darstellerich grossartige Leistung. Um ihn herum ein Ensemble guter Saenger-Darsteller, darunter Caroline Melzer als innig-beruehrende Tochter Cordelia.
Dass manchmal zu laut gesungen und musiziert wird, geht sicher zum Teil auf den Dirigenten Carl St.Clair, aber auch auf die gewaltige Partitur zurueck. Ansonsten ueberzeugt der – nicht ganz unumstritten -  Musikchef der Komischen Oper – vor allem im zweiten Teil -  durch gezuegeltes Entfesseln der gewaltigen Orchesterentadungen wie durch transparente, lyrische Passagen. Das riesige Orchester folgt St.Clair mit gespannter Aufmerksamkeit.
Eine der besten Produktionen der Komischen Oper seit laengerer Zeit.
Foto: Komische Oper

Naechste Vorstellungen: 27.Nov./ 5./18./27.Dez.