Mein Berlinale Tagebuch 2010

(Reihenfolge nach Anzahl der Sterne)

KAK YA PROVEL ETIM LETOM (How I End This Summer) (Russland, 2010) Wettbewerb *****
Zwei-Personen-Drama von Alexei Popogrebsky. Sergei, ein erfahrener Meteorologe hat in diesem Sommer einen jungen Assistenten auf seiner abgelegenen Station in der russischen Arktis bekommen, Pavel, der  etwas unbekuemmert die taegliche Routine vom Ablesen und Uebermitteln aktueller Wetterdaten zu erledigen koenen glaubt. Ein innerer Kampf der charakterlich ungleichen Maenner baut sich langsam auf, gesteigert erst durch eine von Pavel  unterschlagene Funk-Nachricht vom Tod von Sergei’s Frau, dann durch Bedrohungen der unwirtlichen Natur. Das Ende des hochdramatischen Show-Down’s endet nicht mit einem Todesschuss, sondern mit einer erscheckend-bitteren Konsequenz.
Der Film erzaehlt seine Geschichte sehr praezise und ganz knapp, gleichsam in filmischen Ellipsen, in Bilder von majestaetisch-kargen Landschaften (oft im Zeitraffer der Tages- oder Nachtstunden) und in Nahaufnahmen der Gesichter, die die inneren Gefuehle der beiden Darsteller so eindrucksvoll  spiegeln, dass es kaum verdeutlichender Dialoge bedarf. Obwohl viel geschieht, Schusswaffen ebenso eine Rolle spielen wie bedrohliche Eisbaeren, entsteht die Spannung nicht durch aesserliche „Action“, sondern durch eine psychlogische Verfolgungsjagd, deren Ausgang bis zuletzt voellig ungewiss bleibt.
Kammerspiel., Seelendrama, Naturschauspiel – ein aussergewoehnilcher Thriller mit boeser Pointe.

BAL (Honey) (Tuerkei, 2009) – Wettbewerb – ****
Dritter Teil einer Film-Trilogie von  Semih Kaplanoglu. Gesehen durch die Augen des sechsjaehrigen Yusef, der mit Vater und Mutter in einem abgelegenen Tal Anatoliens lebt. Der geliebte Vater ist Bienenzuechter, muss aber wegen des Klimas in immer abgelegeneren Gegenden seine Stoecke aufstellen und kommt dabei durch einen Sturz zu Tode. Yusef selbst ist Stotterer, tut sich in der Schule schwer, aber der feinfuehlige Lehrer weiss ihm durch die erhoffte Auszeichnung zu helfen.
Ein sehr ruhiger Film, ohne jede aufputschende Dramatik, die in wunderbaren Landschafts-Aufnahmen und schlichten Innen-Raeumen das einfache Leben seiner Protagonisten zeigt – ganz auf das direkte, unverstellte Spiel des kindlich-naiven Darstellers Bora Altas vertraut. Und statt illustrierende Musik nur Geraeusche und Laute aus der Natur verwendet: das Zwitschern der Voegel, das Bimmeln eines Gloeckchens oder das Summen der Bienen. Dennoch keine verklaerende Idylle, sondern das harte Leben in Anatolien und die Katastrophe des Vater-Verlustes. Ein durch seine Schlichtheit und Menschlichkeit beruehrender Film.

SHEKARCHI (Zeit des Zorns)    (Dtl./Iran 2009)   – Wettbewerb – ****

Teheran heute: Ali wird aus dem Gefaengnis entlassen. Er nimmt einen Job als Nachtwaechter in einer Fabrik an, um mit dem kargen Lohn seine junge Frau und die kleine Tochter zu ernaehren. Eines Tages werden – so die lange verzoegerte Auskunft der Behoerde – Frau und Tochter toedliche Opfer einer Schiesserei zwischen Polizei und Demonstranten. Zornig und verzweifelt toetet Ali daraufhin wahllos Polizisten auf der Autobahn. Er flieht in die nahen Waelder, wird aber von zwei Polizisten geschnappt, doch die Gruppe verirrt sich und muss Unterschlupf in einer verlassenen Huette nehmen: zwischen den beiden Polizisten bricht jedoch Gewalt aus – am Ende wird Ali auf Grund einer Verwechslung von einem der beiden erschossen.
Ein sproeder Film, in kargen, blaeulichen Bildern knapp erzaehlt, der – zumindest fuer nicht-iranische Zuschauer – manches unverstaendlich erscheinen, Untertoene oder Doppel-Bedeutungen nicht erkennen laesst. Dennoch baut Regisseur Rafi Pitts, der auch die Hauptrolle spielt, die Spannung
geschickt auf, reichert die Story mit einigen Krimi- und Action-Momenten an. Ungeschoent zeigt er die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen einfacher Leute in der iranischen Millionenstadt,  deutlich prangert er Korruption in Behoerden und Polizeiapparat an. Ein mutiger Film? Gedreht wurde er mit deutschen Geldern im Auftrag des ZDF.

EXIT THROUGH THE GIFT SHOP (England, 2009) – ausser Konkurrenz – ****
Als „DokuFeature“ bezeichnet das Berlinale-Programm diese ironisch-witzige Collage des englischen Graffiti-Kuenstlers Banksy – einem Mann, der nie sein Gesicht zeigt und deshalb zu Beginn das Publikum mit schwarz verhuelltem Haupt und elekronisch verzerrter Stimme von der Leinwand herab willkommen heisst. Er erzaehlt wie der amerikanische Klamottenverkaeufer Thierry,  „Street-Art“-Werke mit seiner Videokamera mit geradezu besessenem Eifer dokumentierte und auch Banksy selbst bei dessen naechtlichen Aktionen begleitete.
Doch der Film, den Thierry daraus sehr exzentrisch zusammenschnitt,  missfiel Banksy. Daraufhin ernannte sich der umtriebige Thierry selbst zum Kuenstler, arrangierte mit riesigem Marketing-Aufwand eine temporaere Ausstellung eigener Werke in L.A., die stilistisch alles verwurstete, was von Duchamps bis heute als zeitgenoessische Kunst gilt und sich als solche verkaufen laesst. Der Erfolg war enorm – wie Banksy im off bissig kommentiert.
Der tempogeladene, fantasievoll geschnittetene Film, optisch von opulenter Farbigkeit, sprudelt in Wort und Bild geradezu ueber vor Komik, Parodie und Satire – auf Kunst, Kuenstler und vor allem auf den Kunstmarkt und seine Glaeubigen. Und man kann auch nicht sicher sein, ob der Mann mit dem Pseudonym Bransky nicht auch das Publikum der Berlinale, das den Film begeistert aufnahm,  mit klammheimlichem Gelaechter ironisch auf den Arm nimmt…

SOLZNE (Die Sonne)  (Russland/Italien/Frankreich/Schweiz, 2005) – Retrospektive – ****
Spielfilm um den Verzicht des japanischen Kaisers Hirohito auf seine Abstammung von der Sonnengoettin Amaterasu in einer Rundfunkansprache, Tokyo 1946. Ein im Kino schon oefters dramatisiertes Thema, doch der russische Regisseur Aleksandr Sokurow konzentriert sich in seinem Film ausschliesslich auf die Persoenlichkeit des Kaisers. Nach der Zerstoerung des Palastes  wohnt der Tenno in einem duester-luxurioes ausgestatteten Bunker, der Hofstaat versucht mit aeusserster Strenge den traditinellen Tagesablauf einzuhalten, waehrend der amerikanische General MacArthur eine Abdankung des Kaisers und seiner verzweifelten Regierung erwartet. Doch der Kaiser hat seine eigenen Vorstellungen: er laedt die Amerikaner zu einem offiziellen Foto-Termin,  er besucht – durch das zerstoerte Tokyo fahrend – MacArthur in dessen Residenz , traegt unerwartet Frack und Zylinder, spricht englisch, obwohl die Hofetikette das verbietet. Und dann entschliesst er sich, seiner goettlichen Abstammung zu entsagen  – zum Entsetzen des Hofes und vieler Japaner. Am Ende, nach der
beruehmten Rundfunkansprache, die im Film nicht gezeigt wird, fuehlt sich Hirohito wie befreit – als Mensch und als Familienvater.
Sokurow hat das Aufeinandertreffen der japanischen mit der westlichen Kultur und die dadurch verursachte Loesung aus erstarrter Tradition als Kammerspiel in dunkel-leuchtenden Bildern gestaltet, eine leise Tonspur aus einer Bach und Wagner-verfremdenden, elegischen Musik und fernem Kriegslaerm daruntergemischt. Issey Ogata spielt den Kaiser als faszinierende Mischung aus entwaffnender Naivitaet, hoher Intelligenz  und einem verteckten Humor – eine Persoenlichkeit, die aber nie ganz ihr inneres Geheimnis preisgibt, von den amerikanischen Foto-Journalisten – nicht zu unrecht – als Charlie Chaplin belaechelt. Der Kaiser selbst lacht erst am Ende des Films, als er mit seiner Frau zu den wartenden Kindern eilt  – in ein neues Zeitalter. Ein filmisches Meisterwerk fuer kulturgeschichtlich interessierte Fans.

METROPOLIS (Dtl. 1927)  – Berlinale Special -  ****
Restaurierte Fassung des Klassikers von Fritz Lang. Durch Funde in einem argentinischen Archiv konnte die bisher bekannte  Kopie um 30 Minuten erweitert werden. Inhaltlich nichts neues, aber formal: opulente Bilder und Sequenzen, die das filmische Genie des Regisseurs Fritz  Lang eindrucksvoll bestaetigen. Ihm gelang – mehr oder weniger bewusst – eine bildliche Dokumentation dessen, was man heute als bedeutende, d.h. zukunfstweisende,  geistige Stroemungen der Weimarer Zeit erkennt.  Hohler Pathos und ungewoehnliche Bild-Welten halten sich die Waage. Wer wissen will, wie die geistig fuehrenden Koepfe dieser Zeit  „tickten“, findet eine disparat-bildmaechtige Antwort in Langs Zukunfts-Vision von 1927.

THE GOSTWRITER (Engl/Fr/Dtl, 2009) – Wettbewerb -  ***
Thriller von Roman Polanski nach einem Erfolgs-Roman (und Drehbuch) von Robert Harris um einen
ehemaligen englischen Ministerpraesidenten, der sich angeblich in schlimme Machenschaften verstrickt hat (CIA, Irak-Krieg). Ein bisschen simpel ist die Story, die Harris sich ausgedacht hat -  dabei als enttaeuschert Anhaenger den ehemaligen Freund Tony Blair stehts im Blick. Polanski hat den Krimi routiniert ins Bild gesetzt, die bleierne Atmosphaere geschickt verdichtet und die Darsteller klug gefuehrt. Kommt aber an frueher Genie-Streiche kaum heran.

SAN QIANG PAI AN JING QI (A Woman, A  Gun And A Noodle Shop) (China 2009)
-Wettbewerb -  ***
Unterhaltsame Komoedie von Zhang Yimou. Nach dem Vorbild einer ‚Comedia del Arte‘ treffen sich in einer verlassenen Nudelbar inmitten einer pittoresken Huegellandschaft eine alter Ehemann, seine attraktive junge Frau, deren etwas begriffsstutziger Liebhaber, ein lustiges Diener-Paar und ein schlitzaeugig-boeser Polizist : in historisch-bunten Kostuemen und begabt mit allen Tricks chinesischer Variete-Kuenstler (der fliegende Nudelteig!) – ein etwas ausgedehntes Spiegelfechten mit allen Tricks und Raffinessen des chinesischen Unterhaltungs-Kinos und seiner Show-Werte. Huebsch und harmlos zugleich.

MAMMUTH (Frankreeich, 2009)  – Wettbewerb – ***
Serge Pilardosse (60)  ist Schlachter und will nach einem harten Arbeitsleben in den wohlverdienten Ruhestand wechseln. Dabei stellt er fest, dass einige Unterlagen von frueheren Arbeitgebern fehlen. Auf Draengen seiner Frau, die in einem Supermarkt arbeitet, faehrt er mit seinem alten Motorrad (Typ „Mammut“) ueber Land, um die fehlenden Papiere zu suchen. Dabei trifft er auf nette und fiese Typen, auf alte Freunde und junge Spinner – eine tragikomische Reise in die Vergangenheit, in der auch allerlei Gespenster auftreten wie z.B. eine tote, (von einem Motorradunfall) blutbeschmierte Geliebte (Isabelle Adjani), die ihm aber aufmunternde Ratschlaege erteilt.
Der junge Regisseur Benoit Delepine hat zusammen mit dem Autor Gustave de Kervern eine turbulente und fantasievolle Komoedie um Alt-Star Gerard Depardieu inszeniert.
Depardieu, massiv im Fett und mit schulterlangen offenen Zottel-Haaren, turnt und toelpelt sich durch unzaehlige Slapsticks und komische Stituationen – alles wie durch seine Brille gefilmt in verwackelten, grobkoernigen oder ueberbelichteten Bildern. Ob im Supermarkt, im Hotel unter dauertelefonierenden Handesvertreternoder oder bei einer leicht verrueckten Nichte, die ihre ganzes Haus mit Puppen-Skulpturen vollgepflastert hat. Am Ende kehrt er in flatternden Hippiekleidern nach Hause zurueck – unter die frisch-rasierten Achseln seiner muerrisch-patenten Frau Catherine, von Yolande Moreau („Seraphime“) mit wunderbar trockenem Humor gespielt. Schraeg-unterhaltsames Star-Kino.

NA PUTU (On The Path)  (Bosnien, 2009) – Wettbewerb -  ***
Der neue Film der bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic, die 2006 mit „Esmas Geheimnis – Grbavica“ den Goldenen Baeren gewann. Wiederum spielt die Geschichte im heutigen Sarajewo. Ein glueckliches, junges Paar , Luna und Amar – sie Stewardess, er Fluglotse. Doch Amar wird wegen Alkohol  im Dienst fuer mehrere Monate suspendiert. Ein alter Freund vermittelt ihm Arbeit bei einer moslemischen, wahabitischen Gemeinde. Obwohl Moslem durch Erziehung, aber im Alltag sehr religions-neutral, schliesst sich Amar allmaehlich dieser Gemeinschaft an: sie erloest ihn vom Alkohol, von Zigaretten, vom ‚oberflaechlichen-westlichen Lebensstil‘. Luna dagegen bleibt skeptisch: Maenner, die Frauen keine Hand mehr geben duerfen, Burka-verschleierte Schwestern,  die ihre Unterwerfung
den Maennern gegenueber und das Kinder-Gebaeren als weiblichen Wert an sich preisen  – hier zieht Luna eine Grenze – man trennt sich. Auf immer ?
Engagiertes Kino der bosnischen Regisseurin, die die immer noch vorhandenen Narben der zerstoererischen, kriegerischen Auseiandersetzungen in ihrem Land zeigt, konventionell in der Machart, aber durchaus spannend, da sie ihre Figuren nie einseitig betrachtet, sondern versucht beide Seiten zu verstehen – hervorragend gespielt von eindrucksvollem Darstellern – ein nicht sensationelles, aber nachvollziebar-aktuelles Kino fuer ein breites Publikum – auch auserhalb der bosnischen Grenzen.

THE KIDS ARE ALL RIGHT (USA, 2009) – ausser Wettbewerb -  ***
Attraktive Hollywood-Komoedie, in der eine langjaehrige lesbische Partnerschaft im Mittelpunkt steht – ohne die Grenzen des Mainstream-Kinos zu verletzen.
Durch eine anonyme Samenspende haben die Aerztin Nic (Annette Bening) und ihre Freundin Jules (Julianne Moore)  zwei Kinder grossgezogen:  die 18jaehrige Joni, die gerade auf ein College wechselt  und den 15jaehrigen Laser, einen Sportfan. Doch die Kinder sind neugierig auf den „Bio-Dad“, der alsbald in dem attraktiven Gastwirt und Bio-Gaertner Paul (Mark Ruffalo) gefunden wird,  einem ausgemachten „womenizer“.  Die Folge: allerlei Liebes- und Sex-Verwirrungen, Eifersuchts- und Pubertaetsprobleme: eine schraege, kalifornische Familie kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Natuerlich mit Happy-End.
Die Regisseurin Lisa Cholodenka hat diese Boulevard-Komoedie mit leichter Hand ins Bild gesetzt.
Umganssprachlich-schlagfertige Dialoge wuerzen die familiaeren Reibereien und die Darsteller-Stars machen aus den Rollentypen eine hinreissende Performance: Annette Bening hat dabei in der Langzeit-Ehe die zickigen Hosen an und eine ausgepraegte Liebe fuer gute Rotweine,  Julienne Moore betreut den eher  muetterlichen Part der Gemeinschaft – mit Hang zum heterosexuellen Seitensprung – und Mark Ruffalo ueberzeugt als ehemaliger Samenspender durch einen bemerkenswerten „sexy body“. Trotz manch derber (und nur eingeschraenkt jugendfreier) Einfaelle : am Ende mahnt der 15jaehrige Laser seine wegen des Samenspenders zerstrittenen weiblichen Eltern: „Ihr duerft euch nicht trennen“ – „Warum?“ – „Dafuer seid ihr viel zu alt!“.   – The Kids are all right.

THE RIVER (USA, 1950)   – Retrospektive -  ***
Indien, gesehen mit den Augen des – noch im amerikanischen Exil arbeitenden – franzoesischen Regisseurs Jean Renoir: der breit dahinfliessende Ganges als Symbol des immerwaehrenden Lebens, dessen Ufer unterschiedliche Menschen umfassen, Arme und Reiche, Glueckliche und Leidende. Sozusagen Indien als Mutter harmonischer Lebensweisheit. Renoir bedient sich dabei einer Spiel-Handlung, in der die Toechter zweier englischen Familien, die noch ganz im Kolonialstil in schoenen Ufer-Villen leben, sich in einen durch seine schwere Kriegsverwundung verbitterten Offizier verlieben. Liebes-Leid und -Freud, aber auch Tod (eines der Kinder) und Geburt – all dies ereignet sich am gleichmuetig dahin stroemenden Fluss. Farbenpraechtige Feste und Hindu-Zeremonien runden das harmonischen Indien-Bild Renoirs ab – heute nach 60 Jahren und den politischen und sozialen Ereignissen auf dem unruhigen Subkontinent erscheint dies wie ein ferner, humanistisch-poetischer Traum.

DANIEL SCHMID – LA CHAT QUI PENSE (Schweiz, 2009)    – Panorama – ***
Liebevolle Dokumentaion von Pascal Hofmann und Benny Jaberg ueber den Schweizer Regisseur Daniel Schmid, der 2006 an Kehlkopf-Krebs starb. Ein chronologischer Lebenslauf aus Interviews, Statsments von Freunden, Szenen aus Filmen und Theaterauffuehrungen, Familienfotos und privaten Sequenzen. Kindheit in Graubuenden (der frueh verstorbene Vater war Hotelier in Flims), Studium in Berlin und Muenchen, dadurch Bekanntschaft mit Fassbender, Schroeter und Wenders, Umzug nach Paris, wo Schmid zahlreiche Filme drehen konnte, und Rueckkehr in den 90er Jahren in die heimatliche Schweiz. Seine Vorliebe gilt filmische Melodramen ( „Heute Nacht oder nie“, „Violanta“) aber auch sensiblen Dokumentationen wie „Der Kuss der Tosca“ ueber das Altersheim greisser Saenger in Mailand. Schmid’s Filme wenden sich auf Grund ihrer melodramatischen Thematik und ihrer inszenatorischen Kuenstlichkeit ueberwiegend an ein intelektuelles Publikum, weshalb er auch bis heute nur Insidern vertraut ist – auch wenn er spaeter konventionelle Opern in Zuerich und Genf
  inszenierte. Eine symphatisch-filmische Erinnerung fuer den  Freundeskreis und  ein aufschlussreich-sehenswertes, wenn auch weitgehend unkritisches Portraet des eigenwilligen Schweizers fuer Neugierige.

DER RAEUBER (Dtl/Austr., 2009) – Wettbewerb – ***
Johann Rettenberger ist Bankraeuber, ein verschlossener Einzelgaenger. Zugleich ein zaeher Marathon-Laeufer, der es nach seiner Entlassung aus der Haftanstalt zum Wiener Landesmeister bringt. Er hat keine Freunde, nur eine sproede Beziehung zu Erika, einer alten Bekannten, die aber bald sein Tun entdeckt und ihn bei der Polizei anzeigt. Doch dem sportlich durchtrainierten Johann gelingt die Flucht aus dem Polizeirevier:  er flieht erst zu Fuss, spaeter in gestohlenen Autos durch den WienerWald, gejagt von einem Riesenaufgebot der Polizei. Bei einem Ueberfall in einer Laubenkolonie, um Essbares zu finden,  wird er vom Messer eines sich wehrenden Rentner toedlich verletzt,  er stirbt auf der Autobahn bei laufendem Motor.
Der junge Regisseur Benjamin Heisenberg hat – nach einem wahren Fall in der 80er Jahren – einen spannenden Film inszeniert. Besonders die erste Haelfte besticht durch eine schnelle, schnoerkellose Erzaehlweise, die den wortkargen Taeter und seine abweisende Beziehung zu seiner Umwelt knapp
und praezise zeichnet. Die Flucht des Raeubers und seine Verfolgung durch die Polizei bleibt aber dann doch zu sehr im Rahmen der genre-ueblichen Konvention, ohne dem eine neue oder eigene Note hinzufuegen zu koennen. Entsprechend  ist der Wiener Wald effektvoll grau verschneit, und die musikalische Untermalung durch anschwellende Trommelschlaege droehnt spannungssteigernd …
Hervorragend ist die Verkoerperung des gefaehrlichen „Raeubers“ und durchtrainierten  Marathonlaeufers durch den oesterreichischen Schauspieler Andreas Lust – sein schmales Gesicht mit den brennenden Augen, sein fast wortloser Habitus, seine knappen, geschmeidigen Bewegungen praegen sich kraftvoll ein.

HOWL (USA, 2009) – Wettbewerb -  ***
Gespielte Dokumention vom Werdegang des amerikanischen Dichters Allan Ginsberg, von seinen Insider-Erfolgen im San Francisco der 50er Jahre ( in Schwarz-Weiss) und von einem Prozess, der wegen Obszoenitaet in seinen Gedichten gefuehrt wurde (in Farbe). Filmische Collage von Roy Epstein und Jeffrey Friedman, die zu einem Drittel die Lyrik Ginsbergs durch phantasievolle, aber sehr geschmaecklerische (digitale) Computer-Animation nachvollziebar zu gestalten versucht. Ein Film fuer Insider.

SUBMARINO (Daenemark, 2009) – Wettbewerb – ***
Sozial-Drama im heutigen Kopenhagen von Thoamas Vinterberg, einem der Pioniere der beruehmeten Dogma-Bewegung. Die Geschichte zweier Brueder aus der sozialen Unterschicht, die sich fremd geworden sind, aber nach dem Tod der Mutter auf Grund deren Testamentsverfueguegung  (eine billige Immobilie) wiederbegegnen. Nick, lebt in den Tag hinein, uebernimmt aber schweigend die Schuld eines Mordes auf sich, den ein Freund an einer Nachbarin  begangen hat. Der andere Bruder ist heroinabhaengig und versucht, sich und seinen kleinen Sohn, durch dealen mit Heroin  ueber Wasser zu halten. Die triste Atmosphaere – alles spielt vor einer grauen, winterlichen Vorstadt-Kulisse – interessiet vor allem durch den Blick des Regisseurs auf die „unschuldigen:“ Kinder: ihre unverstellt-naive Wahrnehmung der schlimmen Umwelt , ihre ungebrochen-vertrauensvolle Zuneigung gegenueber Eltern und  einigen Erziehern bilden zwar deneinzigen, aber echten Hoffnungsschimmer inmitten der gezeigten heutigen Goss-Stadt- Misere aus
Arbeitslosigkeit, materieller und moralischer Armut.

GREENBERG (USA, 2009) – Wettbewerb – **
Melancholische Alltagskomoedie von Noah Baumbach. Roger Greenberg (Ben Stiller), 41 Jahre alt, kommt in seine Heimatstadt Los Angeles zurueck, um fuer einige Wochen, das Haus seines Bruders zu betreuen, waehrend dieser mit seiner Familie in Vietnam Urlaub macht. Greenberg, von Beruf Schreiner, trifft alte Freunde, stellt aber fest, dass man sich kaum etwas zu sagen hat. Unsicher, aber gleichzeitig sehr egomanisch, was gelegentlich zu kleinen Auseinandersetzungen mit seiner Umgebung fuehrt, laesst er sich auf ein zunaechst sexuelles Abenteuer  mit der jungen Assistentin seines Bruders ein (Greta Gerwig). Allmaehlich entwickelt sich jedoch zwischen dem Mann in der Mitlife-Krisis und der noch lebens-unerfahrehen, jungen Frau eine ernstere Beziehung. Das Ende bleibt offen.
Freundlich gemachte Unterhaltung mit witzigen Dialogen, zugeschnitten auf die Gepflogenheiten des  „american way of life“,  und getragen vom Star des Films – dem wuseligen Ben Stiller als leicht  komischem Durchschitts-Amerikaner. Nur bedingt festival-tauglich.

SHUTTER ISLAND (USA, 2009)  – ausser Konkurrenz – **
Der neue Film von Martin Scorsese : ein verwirrender, duesterer Thriller um eine psychiatrische Krankenanstalt auf einer abgelegenen Insel vor der amerikanischen Ost-Kueste im Jahre 1954. Filmisch eindrucksvoll, aber inhaltlich wirr: ein Mix aus Horror-, Psycho- und Kriminal-Film . Mit kritisch- gemeinten Anspielungen auf Nazi-Konzentrationslager, die McCarthy-Aerea, den Irak-Krieg und Guantanamo – aber letzlich ein leicht vorhersehbares, langweiliges Konstrukt, das zwar alles andeutet, aber sich auf unverbindlich-beliebige Kino-Kost beschraenkt. Die guten Schauspieler, darunter Leonardo di Caprio, Ben Kingsley, Mark Ruffalo und Max von Sydow, sowie das exzellente technische Team, vermoegen das ambitionierte, aber konfus-duestere Drama nicht zu retten.

MY NAME IS KHAN (Indien, 2009) – ausser Konkurrenz – **
Entgegen den Erwartungen keine Bollywood-Opera, sondern ein Drama ueber die Folgen des 11.September 2001 in Amerika : ueber die Hysterie grosser Teile der US-Bevoelkerung gegenueber ihren Mitbuergern moslemischen Glaubens. Der indische ( inzwischen aelter gewordene) Star Shah Rukh Khan spielt einen autistischen in den USA lebenden Inder, der immer nur beweisen will, dass er kein Terrorist ist und gerade dadurch in Schwierigkeiten geraet. Ein ernsthaftes Thema – in vielen kleinen Nebenszenen erschreckend verdeutlicht – aber durch bombastischen Gefuehls-Kitsch  weichgespuelt.und mit droehnender Musik hochgepuscht.
An welches Publikum wendet sich dieses dreistuendige Melodram ? Kritische Aufklaerung oder beruhigende Verharmlosung ?

JUD SUESS – FILM OHNE GEWISSEN  (Dtl., 2009)  -Wettbewerb   **
Gut gemeint – kuenstlerisch misslungen. Oskar Roehlers Spielfilm ueber die Entstehung des Nazi-Opus „Jud Suess“ und ueber die Rolles seines Hauptdarstellers Ferdinand Marian scheitert an der bieder, unzulaenglichen Inszenierung. In dunklen, fast farblosen Bildern reiht sich ein Klischee ans andere – Goebbels als bruellende Karikatur (Moritz Bleibtreu), Ferdinand Marian als zweifelnd-eitler Schauspieler und Suffkopp (Tobias Moretti) – obwohl er ein fuer seine Zeit typischer Mitlaeufer war.
Auch sonst wird manch historisches Detail filmgerecht aufgemotzt – Marian’s Frau zur Halbjuedin stilisiert oder Hans Moser zur komisch-debilen Charge verniedlicht. Der Film wirkt grobgeschnitzt, hoelzern und gelaehmt von der historischen Vorlage : da hilft auch das aufwendige Nachspielen oder Ein-Kopieren der heutigen Schauspieler in den historischen Jud-Suess-Film wenig – selten blieb ein gegenwaertiger Film, der sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beschaeftigt, so leblos und steif, so uninspiriert und fade wie diese angeblich kritische Auseinandersetzung mit dem Schnulzen-
und Propaganda-Kino der Nazi’s -  “ Der Wind hat mir ein Lied erzaehlt….“ singt  folgerichtig im Abspann Zarah Leander.

AMPHETAMINE (Hongkong, 2009) – Panorama – *
Love-Story zwischen einem wohlhabenden, jungen Banker in Hongkong und einem noch juengeren, huebschen Sportlehrer aus einer armen, chinesischen Migrantenfamilie.
Hoch-gestylter, schwuler Kitsch, ohne jegliche Ironie.