Geballtes Elend: „Precious“ von Lee Daniels ***

Precious (die Kostbare) heisst eigentlich Clareece, ist ein uebergewichtiger Teenager im Harlem der 1980er Jahre. Sie kann kaum lesen und schreiben, wird von ihrer Mutter, die uebel gelaunt den ganzen Tag vor dem Fernseher ihre Sozialhilfe verfuttert, drangsaliert, gedemuetigt und zu Hausarbeiten gezwungen. Vom Vater wurde Precious schon als Kind missbraucht, mit 12 Jahren bekam sie ein Kind von ihm, das am Down-Syndrom leidet und bei der Grossmutter untergebracht ist. Jetzt, im Alter von 16 Jahren,  ist sie erneut schwanger (wieder vom inzwischen verschwundenen, Aids-kranken Vater), fliegt deswegen von der Schule, kommt aber durch Vermittlung der Rektorin in einer alternativen Schule fuer Problemkinder unter. Dort trifft sie auf eine verstaendnisvolle Lehrerin, die ihr nicht nur – muehsam – lesen und schreiben beibringt, sondern auch ein allmaehlich sich festigendes Selbstbewusstsein, so dass Precious sich schliesslich  -samt ihren beiden Kindern-  von der schrecklichen Mutter loest und ein eigenstaendiges Leben beginnt.
Der Film des farbigen Regisseurs Lee Daniels basiert auf einem in den USA erfolgreichen Roman („Push“ von Sapphire), der sehr offen und krass das kurze Leben dieser nach realen Vorbildern erfundenen Figur ( in der „Ich“-Form) schildert. Zwar wird vieles gemildert (auch der „optimistische“ Schluss), dennoch wirkt der brutale Naturalismus oft schockierend. Und in seiner Anhaeufung von menschlichen Demuetigungen und sozialem Elend stoesst er an die Grenzen des Glaubwurdigen. Doch der geschickte  Schnitt (bunte Traum-Sequenzen, in denen Precious sich als Disco-Queen oder Model-Star sieht, mischen sich raffiniert mit realen Elends- und Pruegel-Szenen in der verwahrlosten Wohnung oder auf den verschmutzten Strassen) und die Intensitaet der Darsteller (vor allem Gabourey Sidibe in der Titelrolle) ueberspielen die Schwaechen des Drehbuchs, bieten Einblicke in ein schwarzes, subkulturelles Milieu wie es so brutal im Kino selten gezeigt wird.
Der Film ist umstritten: der Vorwurf rassistischer Klischees wurde von einigen (schwarzen) Kritikern in Amerika erhoben, andererseits zeichnete das ( ueberwiegend weisse) Hollywood-Etablissement  ihn mit sechs Oscar-Nominierungen aus, und die hervorragende Darstellerin der Mutter, Mo’Nique, erhielt dann auch die goldenen Statue als besten Nebendarstellerin.
Die Diskussion um die Darstellung der Farbigen im grossen Kino ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber vielleicht bringt „Precious“ sie ein gut‘ Stueck voran.

Foto/ Verleih: Prokino

zu sehen: CineStar Sony Center OV;  Hackesche Hoefe OmU;  Odeon OmU;  Broadway; CinemaxX Potsdamer Platz;  Filmtheater am Friedrichshain;  International; Kulturbrauerei;  Neue Kant Kinos;  Yorck