Anregender Einblick: ‚La danse – Das Ballett der Pariser Oper‘ von Frederick Wiseman****

Zweieinhalb-stündiger Dokumentarfilm über das Ballett der Pariser Oper. Einblicke in das tägliche Training der Tänzer, in das vielfältige Wirken der Werkstätten und des Managements. Man erlebt die harte Arbeit der Solisten wie des Ensembles, begleitet sie sowie ihre Lehrer und Choreographen von der ersten Probe bis zur Premiere einer Produktion. Man sieht wie Kostüme entworfen und genäht werden, wie die passenden Perücken und Requisiten gesucht und in den riesigen Magazinen gefunden werden. Man wird auch mit den Schwierigkeiten und Problemen einzelner Tänzer konfrontiert, beobachtet sie im Gespräch mit Kollegen oder der überaus wortgewandten Direktorin der Truppe. Und man wird Zeuge, wie diese Chefin geschickt verhandelt: sowohl mit neu zu engagierenden Choreographen, Bühnenbildnern, Musikern  – meist (sensible) Berühmtheiten der internationalen Szene – , aber auch mit den gestandenen Leitern der einzelnen Abteilungen des Hauses und vor allem – sehr köstlich! – mit den cleveren Leuten des Marketings : wie Sponsoren – vorzugsweise reiche Amerikaner – gefunden und gewonnen werden und was man ihnen für ihr finanzielles Engagement als Gegenleistung bieten muss (bevorzugte Zuschauerplätze, Partys mit den „Etoiles“ u.ä.).
Vor allem aber hat man die seltene Gelegenheit das Innenleben des berühmten „Palais Garnier“ mit seinen vielen Räumen und verzweigten Gängen kennenzulernen, das historischen Haus der Pariser Oper – auch wenn manche der Produktionen im modernen Gebäude an der Place Bastille aufgeführt werden.
Autor dieser spannenden Blicke hinter die Kulissen des Pariser Balletts (als Institution unabhängig von der in den gleichen Häusern arbeitenden „Opera“) ist der Amerikaner Frederick Wiseman. Berühmt für seine Methode, den Filmdokumenten keinerlei schriftlichen oder verbalen Kommentar hinzuzufügen. Er zeigt nur die direkt gefilmten (und äusserst geschickt montierten) Bilder, verzichtet aber auf jede zusätzliche Erklärung oder gar Analyse. Der Zuschauer soll sich selbst seine Meinung über das Gezeigte bilden.
Wiseman, geboren 1930, ursprünglich Rechtsanwalt in Boston, drehte seit 1967 in den USA viele abendfüllende, lange  Dokumentarfilme  u.a. über  Schulen, Gefängnisse, Model-Agenturen, Gerichte oder  – sein neuestes Werk -  über einen Box-Club. 
Doch so belehrungsfrei und undogmatisch Wiseman’s Methode ist, weil sie nie direkt den Zuschauer ideologisch überzeugen oder beeinflussen will, so hat diese speziellen Art des rein beobachtenden Dokumentarfilms auch ihre Grenzen. Im Fall des Balletts der Pariser Oper zeigt die Dokumentation zwar den ganzen, faszinierenden Organisations- und Produktions-Apparat, der erst die grossen Tanzabende möglich macht – worin aber das tänzerische Profil und die künstlerische Qualität dieses Ensembles und seiner einstudierten Werke besteht, kann der Film nicht erklären. Denn hierzu wären fachliche Deutung und kritische Wertung nötig.
Ob die im Repertoire befindlichen Klassiker nur verstaubte Museums-Stücke sind, ob die modernen Werke mehr als nur modischen Chic bieten, kurz: ob das Ballet der Pariser Oper immer künstlerisch  Un-oder Aussergewöhnliches leistet, dies vermag der Film nicht zu zeigen.  Auch sind die eingefügten Ausschnitte aus Arbeiten von Rudolf  Nurejew (Nussknacker),  Pierre Lacotte (Paquita),  Mats Ek (Bernarda Albas Haus) oder Sascha Waltz (Romeo und Julia) viel zu kurz, um ihre künstlerische Bedeutung und Qualität einschätzen zu können.
Dennoch : als Einblick hinter den Vorhang einer der grössten und berühmtesten Tanz-Bühnen
der Welt und der dort hart arbeitenden Menschen strahlt Frederick Wiseman’s umfangreiche Dokumentation grösste Faszination aus. Und weckt möglicherweise auch neues Interesse für die flüchtige Kunst des Tanzes.

Poster/ Verleih: Kool

zu sehen: fsk (OmU), Hackesche Höfe Kino (OmU); nur Matinee: International, Cinema Paris