Eine untergehende Welt: ‚Poll‘ von Chris Kraus ***

Ein Familien-Drama im Baltikum kurz vor dem 1.Weltkrieg.  Die gerade 14-jährige Oda kommt aus Berlin, wo sie aufwuchs, ins palastartige Gut ihres Vaters zurück , des Hirnforschers Ebbo von Siering : mit ihr der Sarg der gestorbenen Mutter, die in der baltischen Heimaterde begraben sein will. Das schon bröckelnde Gutshaus namens ‚Poll‘, das auf hölzernen Stelzen ins flache, kurländische Meer gebaut ist, wird von einer dekadent-selbstbewussten Gesellschaft bewohnt: dem äusserlich charmanten, aber brutal verbohrten Vater, der ob seiner obskuren, unwissenschaftlichen Theorien (über den Sitz des ‚Bösen‘ in einer Hirndrüse) von der Universität entlassen wurde und nun gekaufte Leichen in einer umgebauten Scheune präpariert;  die leicht somnambule, zweite Ehefrau, die Glück in der heimlichen Beziehung zum verbitterten Verwalter sucht; ein halbwüchsicher, eingeschüchteter Sohn, der vom Vater wegen kleinster Vergehen härtest bestraft wird. Um das Gut herum hat sich ein Trupp russischer Offiziere und Soldaten einqartiert, auf der Suche und der Jagd nach
estländischen Anarchisten.
Oda, die gerne liest und Tagebuch schreibt, fühlt sich in dieser autoritären Welt mit ihren Lese- und Musik-Abenden, mit den Ausritten und Strand-Picknicks, unwohl. Gleichzeitig entwickelt sie Interesse für die medizinischen Aspekte der Arbeit ihres Vaters. Ende Juli entdeckt sie in einer verfallenen Kapelle einen der gesuchten, verwundeten Anarchisten. Sie beschliesst, ihn gesund zu pflegen und versteckt ihn im Dachgeschoss des „Labors“ ihres Vaters. Eine platonische Romanze zwischen den beiden jungen Menschen entsteht, endet aber ein paar Tage später tödlich – am 1.August bei der Nachricht vom Kriegsausbruch  : der Verwalter erschiesst den „Anarchisten“, um Oda und sich vor den schon angelegten Gewehren der Russen zu retten.
Regisseur und Drehbuch-Autor Chris Kraus („Vier Minuten“) hat ein Stück eigener Familien-Geschichte verfilmt, wobei er Dichtung und Wahrheit entsprechend den marktgängigen Konventionen kino-wirksam (oder fernseh-tauglich) mischt. Die komplizierten politischen Verhältnisse interessierten ihn kaum. Doch die Story, so geschickt und oppulent sie filmisch in Szene gesetzt wird, wirkt einerseits allzu vorhersehbar und ist andererseits mit zu vielen Neben-Aspekten und Details überfrachtet. Die Stärke des Films liegt deshalb weniger in der historisierenden Geschichte, als vielmehr in der atmospharisch-dichten Schilderung der adlig- baltendeutschen Gesellschaft, ihrer grossbürgerlich-selbstherrlichen Lebensweise, ihrem herblassendem Behandeln der unteren, besonders der bäuerlichen Stände. Diese reaktionäre Geisteshaltung spiegelt sich vor allem in der Figur des Vaters, in seinen autoritären Erziehungsmethoden, in seinen verbohrt-gefährlichen Hirnforschungen, die deutlich auf die rassistischen Medizin-Verbrechen der Nazis hinweist.
Zweites grosses Plus des Films: sein hervorragendes Darsteller-Ensemble. Edgar Selge ‚brilliert‘ in der Rolle des Vaters: verbindet äussere Eleganz des Auftretens mit verbohrt-perverser Geisteshaltung;  Jeanette Hain ist die schöne, leicht  melancholisch-depessive Ehefrau , Ricky Müller ein verbitterter Verwalter, dessen aufgestaute Wut sich am Ende in blankem Hass entläd; Tambert Tuisk spielt einen jugendlich-sympathischen Flüchtling, eher ein aufbegehrender Student als ein Anarchist im politischen Sinn; und Paula Beer verkörpert überzeugend die junge Oda als ein kluges, geistig sehr waches Mädchen. Die starke Intensität ihres Spiels lässt manche Unwahrscheinlichkeiten der Handlung übersehen.
Trotz aller Einschränkungen: ein engagierter Film, sehenswert als intelligent-gefällige  Unterhaltung vor schöner, heute kaum mehr bekannter, historischer Kulisse.

Poster/ Verleih: Pfiffl Medien GmbH

zu sehen: u.a. Broadway; Filmtheater am Friedrichshain; Hackesche Höfe; Kant-Kino; Kulturbrauerei; New Yorck; Rollberg-Kino